Aus dem Hessischen Landesmuseum am Karolinenplatz in Darmstadt haben sich anscheinend mumifizierte Fledermäuse auf okkulten Wegen ein neues Leben erschlichen und sich auf dem Platz vor dem Museum in einem großen Zelt zu zombiehaften Untaten zusammengerottet. Dort gastiert das Varieté „Da Capo“, und dessen Programmteam ist ganz offensichtlich zum Opfer der blutsaugerischen Bisse der Fledermäuse geworden.
Schon vor Beginn der Veranstaltung zeigte diese „Vergiftung“ erste Folgen. Bei der Ankündigung der Tombola zugunsten des Darmstädter Vivariums verwechselte die Moderatorin in einem Versprecher „Affen“ mit „Afrikanern“, was ihr jedoch nur nachsichtiges Lachen statt einen „Shitstorm“ einbrachte. Geschickt verwies die Moderatorin diesen Versprecher mit dem Hinweis auf den genossenen Lampenfieber-Sekt ins Humoristische und ergänzte ihn noch mit dem zweiten Versprecher, in dem sie aus Losen „Läuse“ machten. Daraufhin war die Stimmung im Saal sofort gelöst. Ob das wohl so geplant war?…….
James Jungeli hatte sich für das neue Programm im Gegensatz zu früheren Jahren eine durchgehende Geschichte ausgedacht. Zwar zog sich auch früher stets ein bestimmtes Thema durch das Programm, aber eher als Idee denn als Erzählung. In dem diesjährigen Programm bestimmt die Geschichte um die Vampir-Familie jedoch den Ablauf den Abends.
Gleich zu Beginn tritt Marcus Geuss als transsylvanischer Graf mit Spitzbart, Gehrock und polierter Kopfdecke auf, bewusst angelehnt an Murnaus „Nosferatu“ aus dem Jahr 1922. Maliziös lächelnd und voller doppelbödiger Liebenswürdigkeit trachtet er nach der Halsschlagader junger Menschen. Ihm zur Seite beeindruckt Tomasz Diva in der Frauenrolle der Gräfin mit großem Auftritt und latent laszivem Gebaren. Diva macht seinem Namen in dieser Rolle alle Ehre…..
Er muss auch gleich als Hildegard Knef bzw. Zarah Leander auftreten und beweist seine gesangliche Intonationsfähigkeit mit dem altbekannten „Alto“-Song „Wenn die Sonne hinter den Dächern versinkt…“, bevor Romina Micheletty virtuos mit den Reifen tanzt. In einer Nebenrolle spielt sie noch die dubiose „Begleiterin“ des Grafen, wobei man nie weiß, ob es dabei um Blut oder anderes geht.
Das Blut unschuldiger Tagmenschen – die Vampire erwachen nur nachts zum Leben – bewegt das gräfliche Paar von abends bis morgens. Als ein junges Paar wegen eines Autounfalls um Unterschlupf bittet, kann sich der Graf die Bemerkung „Essen auf Rädern“ nicht verkneifen. Anschließend werden die beiden verwirrten Besucher zwecks zukünftiger Blutsverwandschaft getrennt hinter den Vorhang geführt, und der Graf bleckt vor Vorfreunde schon einmal die Zähne.
In dieser Vorfreude stört ihn jedoch die überlebensgroße Fledermaus Wladimir, die sich gleich auf den Arm des Grafen alias des bauchredenden Marcus Geuss schwingt und allen Anwesenden allerlei Frechheiten ins Gesicht schleudert. Kostprobe: Wladimir begrüßt die Gräfin mit dem Kompliment, sie sehe sehr gut aus – im Rahmen ihrer Möglichkeiten. Wüsste man nicht um Geuss´Fähigkeiten als Bauchredner, könnte man tatsächlich glauben, in der Fledermaus-Puppe verstecke sich ein kleinwüchsiger Schauspieler.
Nahtlos geht es von diesen Frechheiten über zu einem soignierten Herren mit gegelten grauen Haaren und einem Dreiteiler-Anzug (wer weiß noch, was das ist?). Kristian Kristof ist ein Meister in der Jonglage der unterschiedlichsten Dinge: übereinander gestapelte Barhocker mit Glas und Kerze auf dem obersten, mehrere Strohhüte, die den Weg auf seinen Kopf auch in den schwierigsten Lagen scheinbar von selbst finden, oder rechteckige Schachteln, die im Wirbel der Hände in der Luft aneinander zu kleben scheinen. Später wird Kristof sogar Billardstöcke in verschiedenen Lagen übereinander schichten. Doch da hilft wohl auch ein kleiner Magnet….
Nach einer unterhaltsamen Jagd auf einen Vampirjäger im Publikum – Romina kommt blutüberströmt und schreiend auf die Bühne gestürzt – zeigt Maria Popozova ihre Können auf der Stange – ihren total verbogenen Körper mit dem Mund haltend! – und später in der Glaskugel unter dem Zeltdach. Vor allem bei den Kunststücken auf der Stange kann man wegen der kunstvollen Verdrehung der Gliedmaßen bisweilen kaum hinsehen, muss es aber immer wieder.
Später wird auch die lokale Politik auf die Bühne gezerrt. Bürgermeister Rafael Reißer muss zusammen mit einer jungen Frau als „Bauernopfer“ in einem Bauchredner-Sketch auftreten. Gedankenschnell nannte er sich auf der Bühne in „Gerhard“ um, doch man kennt ihn hier. Zu den Mundbewegungen der beiden Laienspieler servierte Marcus Geuss freche Texte in „genderkonträren“ Stimmlagen. Wieder viele dankbare Lacher, die die beiden Darsteller humorvoll mit eigenem Lachen ergänzten.
Auch seinen nicht so recht geratenen Sohn muss der Graf noch anleiten, so bei der Werbung um seine Braut. Mikhailo Romanenco und Valeriia Chyzhevska-Price machen daraus eine atemberaubende Akrobatiknummer, die ihrerseits wieder den „Blutrauschtanz“ des Damenballetts „A6“ auslöst.
Zum Ende hin werden die verbalen Vampireinlagen etwas kürzer und dafür die Akrobatikvorführungen intensiver. Philip Golle löst sich aus seiner Rolle des düsteren Zeremonienmeisters und legt einen wilden Tanz hin, und die Gruppe Asia präsentiert eine fast schon morbide Erweckung eines Kunstmenschen mit maschinenartigen Ritualen. Und schließlich beweist Marco Noury seine Körperbeherrschung an den Strapaten.
Die hervorstechende Eigenschaft dieses Programms ist der durchaus eigenwillige Humor, den man stellenweise als leicht morbide bezeichnen kann und der wohl bewusst ein wenig gegen „political correctness“ gerichtet ist, wenn man die Meuchelung bzw. blutsaugende Verwandlung unschuldiger „Opfer“ in Vampire als tendenzielle Repression betrachtet. Die Darsteller spielen lustvoll mit den ambivalenten Ängsten, die einst hinter der Vorstellung der unsterblichen Blutsauger steckten, und lassen auch dem genüsslichen Sadismus der – glücklicherweise fiktiven – Vampire freien Lauf. Heute ist das mehr oder weniger ein Anlass für viel Gelächter, aber es gibt bestimmt auch Stimmen, die eine solche Thematisierung als unzulässiges Spielen mit menschlichen Gefühlen und Ängsten verurteilen. Bis diese Shitstorms über Darsteller und Produktionen hineinbrechen, wollen wir aber den etwas morbiden Humor in vollen Zügen genießen.
Frank Raudszus
No comments yet.