Die Premiere von Sophokles´Tragödie „Ödipus, Tyrann“ in Darmstadt fügte sich wie bestellt in die weltpolitischen Zeitläufte. geht es darin doch um einen Herrscher, der wegen des öffentlichen Drucks um seine Macht fürchten muss und geradezu aggressiv um seine Macht kämpft. Doch im Gegensatz zur aktuellen Parallelen hat bei Sophokles der Herrscher unschuldig – weil unwissend – schwere Schuld auf sich geladen und steht am Ende gedemütigt und von eigener Hand geblendet da.
Sophokles hat in dieser Tragödie dem an der Pest gestorbenen Perikles – ein „guter“ Tyrann – ein durchaus positives Denkmal gesetzt. Wird doch Ödipus wegen der Prophezeiung, seinen Vater zu töten und seine Mutter zu heiraten, als Säugling verstümmelt und im Gebirge ausgesetzt. Nur das Mitleid des damit beauftragten Dieners rettet ihn und lässt ihn als Adoptivsohn eines anderen Königspaares aufwachsen. Als er die Prophezeiung wortwörtlich selbst vom Orakel erfährt, flieht er vor seinen vermeintlich leiblichen Eltern, tötet auf dem Weg in einem Streit seinen wirklichen Vater, löst vor den Toren Thebens das fluchbeladene Rätsel des Sphinx und wird zum Lohn König von Theben, damit Nachfolger seines soeben getöteten Vaters und Ehemann seiner Mutter. Dramaturgisch ist dabei natürlich wichtig, das die Thebaner nie erfahren, wer da draußen auf den gefährlichen Straßen ihren König erschlagen hat.
Als in Theben die Pest ausbricht – genau das war auch in Sophokles´ Athen der Fall -, sucht das Volk einen Schuldigen und Rettung durch den König. Das Stück beginnt quasi mit Kreons – Ödipus´Schwager – Rückkehr vom Orakel, das Ödipus auf verrätselte Weise die Schuld gibt. Bei Sophokles entwickelt sich ein langer Disput, in dem der sich vollständig unschuldig fühlende Ödipus seinem Schwager Machtgier und Putschgelüste unterstellt und ihm sogar mit dem Tod droht. Sophokles sieht letztlich das Schicksal und die unerforschlichen Ratschlüsse der Götter als Grund für Schuld und Leid des Menschen. Diesen göttlichen Entscheidungen hat sich der Mensch zu fügen, wie es Ödipus am Ende auch tut, indem er sich selbst blendet und die Macht an Kreon übergibt.
Christoph Mehler bringt jedoch eine andere Perspektive in diese Tragöde. Der ersten Szene des antiken Originals – frei nach Friedrich Hölderlin – stellt er den in Heaxametern verfassten Kommentar Heiner Müllers voran, den Erwin Aljukic auf einer leeren Bühne vorträgt, nur von einem Scheinwerfer angestrahlt. Liest man diesen nur scheinbar antiken Text genauer, so schält sich die Machtfrage als zentrales Motiv heraus. Mit zunehmender Aufdeckung der wahren Hintergründe von Laios´ Tod erodiert Ödipus´ Selbstwertgefühl und Machtbasis. Er entsorgt sich sozusagen selbst, indem er jeder Spur nach dem Mörder des (Schwieger-)Vaters nachgeht, wehrt sich aber bis zum letzten, unumstößlichen Beweis gegen das Offensichtliche. Aus heutiger Sicht hätte er schon nach den ersten Parallelen zu seiner eigenen Geschichte wegen Befangenheit sein Amt aufgeben müssen; doch nicht so Ödipus, der sich an seine Macht klammert und bis zuletzt andere Erklärungen beschwört.
Mehler dreht deswegen Sophokles´ Stück jedoch nicht um, sondern stellt diesen zweiten Aspekt aus nahe liegenden Gründen deutlicher in den Vordergrund als die antike Version der unerforschlichen Götter. Auch ein anderweitig waltendes „Schicksal“, wie es heute die Esoterik gerne propagiert, ist heute nicht mehr diskursfähig. So werden die Szenen zwischen Ödipus und Kreon zu zentralen Momenten dieser Inszenierung.
Um dies zu unterstreichen, lässt Mehler Kreon (Daniel Scholz) als einzigen in heutiger Kleidung – Manageranzug mit Krawatte – auftreten, während alle anderen stilisierte antike Kostüme tragen. Kreon ist damit Vertreter einer neuen Zeit, die Problemen sachlich und säkular zu Leibe rückt und sich von schicksalhaften Deutungen distanziert. Daniel Scholz stellt seine gesamte Gestik und Mimik darauf ab, einen politischen Krisenmanager der Jetztzeit zu spielen, der persönliche Befindlichkeiten wie Ödipus´Macht Bewusstsein durchaus einkalkuliert, aber nicht als gottgegeben betrachtet. Wenn er am Ende die Macht übernimmt, tut er das mit sorgenvoller Miene und dem Wissen, dass er eine schwere Bürde zu tragen hat. Ödipus (Jörg Zirnstein) dagegen, gibt sich der Verzweiflung hin, die aber mehr dem Verlust der Macht und des Selbstwerts als der – wenn auch tragischen -Schuld gilt. Wenn er blutüberströmt auf der zentralen Drehbühne steht und klagt, verlässt ihn einer nach dem anderen seiner ehemaligen Anhänger bedächtig-zögernd aber absichtsvoll. Der Macht- und Würdeverlust dünnt seine politisch-gesellschaftliche Umgebung bis zur völligen Leere aus. Ein sehr schönes Bild für heutige Machtspiele, bei denen oftmals der erste abtrünnige Anhänger einen politischen Erdrutsch auslösen kann. Ein Schelm, wer dabei an Trumps drohendes Impeachment denkt!
Jennifer Hörr hat eine karge Bühne entworfen, die außer einem kreisrunden, erhöhten Podest auf der Drehbühne nichts zu bieten hat. Sie lehnt sich dabei bewusst an die antike Aufführungspraxis an, die auch kein explizites Bühnenbild kannte, und rückt damit die Personen in den Mittelpunkt. Nur auf der Bühnenrückwand projiziert sie verschiedene Bilder, zu Beginn einen aufgehenden Himmelskörper, den man nüchtern für den Mond halten kann oder anspielungsreich für eine abgestorbene Erde. Denn mit zunehmender Dramatik des Bühnengeschehens beginnt dieser Himmelskörper in gewaltige Turbulenzen zu verfallen und schließlich im Feuer unterzugehen. Der Klimawandel lässt grüßen! Am Schluss präsentiert sich dann wieder der kahle Planet des Beginns, nun abnehmend. Zwischendurch erscheinen die Köpfe antiker Statuen oder die Wellen des Meeres auf dieser Wand; auf diese nur bebildernden Projektionen hätte man sicher verzichten können, da sie lediglich der optischen Auflockerung dienen und sogar vom Bühnengeschehen ablenken.
Die Handlung spielt zu einem großen Teil auf einer Laufbühne, die sich von der Bühne mitten durch den Zuschauerraum bis in die obersten Reihen erstreckt. Diese Einbeziehung des Publikums ist zwar nachvollziehbar und erzeugt auch höhere Präsenz, weist aber auch Nachteile auf. Die von hinten agierenden Darsteller sieht man nicht mehr, und da sie mal links, mal rechts in das Publikum sprechen (müssen), versteht nur die gerade angesprochene Hälfte den gesprochenen Text gut. Das gute alte Frontal-Theater hat doch auch seine Vorteile! Übrigens ist die Verständlichkeit in dieser Inszenierung generell ein Problem, da einerseits die Hölderlinschen Texte sich der heutigen Rezeption nicht gerade anbieten, andererseits Mehler die Darsteller oft zur Seite oder gar nach hinten in die Bühne reden lässt, was szenisch durchaus verständlich ist, dem Verständnis in dem akustisch sowieso schon problematischen Kleinen Haus jedoch nicht gerade dienlich ist.
Den Chor repräsentieren bei Mehler Robert Lang und Mathias Znidarec in altgriechischer Kostümierung. Sie agieren jedoch nicht als entindividualisierter Block mit orakelhafter Kommentierung des Geschehens, sondern sind durchaus lebendige Figuren, die auch im Auftrag des Königs die eine oder andere Handlung vollziehen, etwa den aufgeklärt-kritischen Kreon mit drastischen Mitteln zur Raison zu bringen. Ihre sonstigen Kommentare sind eher von der zynischen Art der hörigen Gefolgsleute. Warum Mehler die beiden jedoch nach der dramatischen Aufklärung der Ödipus-Tragödie mehrfach in verschiedenen Haltungen lustig den Laufsteg herunterrutschen lässt, wobei sie von dem letztlich gesprächigen Diener noch im Stil eines Vorstadt-Varietés Haltungsnoten erhalten, bleibt unerfindlich. Diese „komische“ Einlage passt weder zu dem antiken Original noch zu der modernen Machtkritik. Wenn das der Kommentar des Chores zum abwärts führenden Lebenslauf des Menschen (Ödipus) sein soll, dann überschreitet er die Grenze zum Kalauer. Ähnliches gilt für die intermittierenden Orgien mit wildem Beat, Tanz und anzüglichen Gesten, die sich ebenfalls in keiner Weise aus der Handlung ergeben oder sich mit ihr assoziieren lassen. Ob das als Auflockerung gedacht war oder im Sinne der Farce, zu der jedes tragische Ereignis beim zweiten Male wird, bleibt offen. Auf jeden Fall hätte man auf diese Szenen vollständig verzichten, damit die Inszenierung straffen und dramaturgische Inkonsistenz vermeiden können.
Die schauspielerischen Leistungen machen diese Regie-Ausrutscher jedoch wieder wett. Jörg Zirnstein spielt den Ödipus mit großem Einfühlungsvermögen und einer beeindruckenden Präsenz. Man nimmt ihm den inneren Kampf um sein Selbstwertgefühl und seine Macht in jedem Augenblick ab und erlebt die Qualen dieser Figur fast physisch mit. Daniel Scholz ist ihm als Kreon ein Gegenüber auf Augenhöhe, wenn auch mit einer ganz anderen mentalen Ausrichtung. Judith Niederkofler gibt den schlauen, aber schließlich geständigen Hirten als waidwundes Wesen, das sich seiner Machtlosigkeit auf verzweifelte Wiese bewusst ist, und Erwin Aljukic ist ein entrückter Teiresias, der genau weiß, dass seine Prophezeiungen eine latente Gefahr für ihn bergen. Gabriele Drechsel ist eine bis zum fatalen Ende kontrollierte Frau, die aus der Enthüllung der unsäglichen Verhältnisse die einzig richtige Konsequenz zieht. Robert Lang und Mathias Znidarec verleihen dem Chor in Gestalt zweier konkreter Personen individuelle Züge.
Das Premieren-Publikum zeigte sich beeindruckt und spendete allen beteiligten einschließlich der Regie lang anhaltenden Beifall.
Frank Raudszus
No comments yet.