Nicolas Mathieu, Wie später ihre Kinder

Print Friendly, PDF & Email

Der 2019 auf Deutsch erschienene Roman „Wie später ihre Kinder“ von Nicolas Mathieu spielt im französischen Arbeitermilieu im ehemaligen Kohle- und Stahlrevier im Nordosten Frankreichs.

Die Handlung erstreckt sich über die Jahre von 1992 bis 1998. Der Erzähler greift die Jahre 1992, 1994, 1996 und 1998 heraus, um an ihnen schlaglichtartig die Entwicklung seiner Protagonisten zu beleuchten.

Der fiktive Ort Heillange ist Schauplatz des sozialen Abstiegs der ehemaligen Fabrikarbeiter, die sich nach Schließung der Fabriken und nach Beendigung der Kohleförderung mit Gelegenheitsjobs durchschlagen. Sie fühlen sich zunehmend abgehängt von der gesellschaftlichen Entwicklung.

Zur allgemeinen Frustration, die zu Alkohol- und Drogenmissbrauch und zu gewalttätigen Auseinandersetzungen, auch in den Familien, führt, kommt die zunehmende Abgrenzung zwischen den französischen und den arabischstämmigen Bevölkerungsgruppen. Hatte man in besseren Zeiten gemeinsam am selben Arbeitsplatz gestanden und ein gemeinsames Klassenbewusstsein entwickelt, steht zunehmend der ethnische Gegensatz im Mittelpunkt. Früheres Vertrauen unter Kumpeln ist in Missgunst und Misstrauen umgeschlagen.

Dieser Prozess wird beispielhaft an der Lage zweier Arbeiterfamilien – einer französischen und einer ursprünglich marokkanischen – gezeigt, deren Söhne Anthony und Hacine in eine unheilvolle Beziehung zueinander geraten sind.

Ein von Hacine gestohlenes Motorrad wird zum Anlass, dass sich die Eltern begegnen. Dabei wird zum einen die Naivität der Eltern deutlich, was die Situation der Jugendlichen anbetrifft, aber auch die Ahnungslosigkeit der französischen Mutter hinsichtlich der unterschiedlichen kulturellen Gepflogenheiten in den arabisch-stämmigen Familien.

Anthonys Mutter meint, sie müsse nur mit Hacines Vater reden, und schon wäre das Motorrad wieder da. Das erweist sich als pure Illusion.

Hacines Vater dagegen geht es um den Ehrverlust, den sein Sohn ihm angetan hat. Die Strafe ist eine rabiate körperliche Attacke auf den Sohn und dessen Verbannung nach Marokko.

Auch Hacines Vater ist naiv, sieht er doch nicht, dass das Nichts-Tun in Marokko seinen Sohn erst recht auf die falsche Schiene setzen wird. Hacine beginnt eine zunächst sehr erfolgreiche Karriere als Drogendealer und malt sich eine Zukunft in Luxus und Reichtum aus. Als er aber von den Profi-Dealern aufs Kreuz gelegt und all seines Geldes entledigt wird, erkennt er, dass er in Marokko nicht heimisch werden kann.

Es bleibt die Rückkehr nach Frankreich, wo er sich zunächst noch einmal im Drogengeschäft versucht. Aber alle Illusionen zerschlagen sich, er sieht sich schließlich in schlecht bezahlten Jobs wieder, in einer festen Beziehung, schließlich mit Frau und Kind in kleinbürgerlichen Verhältnissen. Die Hoffnung auf sozialen Aufstieg und soziale Anerkennung zerschlägt sich, Resignation setzt sich an die Stelle von Aggression und Aufbegehren.

Auch Anthony versucht dem Teufelskreis aus Armut und Aggression zu entkommen.

Die Situation zu Hause ist unerträglich. Der Vater trinkt, ist gewalttätig und verliert immer wieder seinen Job. Schließlich trennt sich die Mutter von ihm, das wird für den Vater der Anlass, auf Entzug zu gehen. Da macht sich Hoffnung breit.

Anthony seinerseits erfährt die erste Liebe mit einem jungen Mädchen aus besseren Kreisen. Aber die Hoffnung, über sie aus dem Elend herauszukommen, zerschlägt sich. Sie macht ein sehr gutes Abitur und flieht nach Paris, dem Sehnsuchtsort aller jungen Leute.

Anthony macht zwar auch das Abitur, aber das Angebot an Studiengängen schreckt ihn eher ab. Ohne materielle, geschweige denn ideelle Unterstützung durch das Elternhaus sieht er für sich keine Chance.

Voller Hoffnung verpflichtet er sich zum Militärdienst, wird jedoch nach einer Verletzung ausgemustert. Nach dem Militärdienst steht er wieder vor dem Nichts. Der Versuch, in Paris einen Neuanfang zu finden, zerschlägt sich schon nach einem Tag Herumirren in der Stadt, so dass auch er – wie Hacine – nach Heillange zurückkehrt. Hier warten auf ihn ebenfalls nur schlecht bezahlte Jobs, allerdings eine kleine eigene Wohnung. Es sieht nach einem erträglichen Leben aus. Auch der Vater, der inzwischen trocken ist, hat sich stabilisiert.

Das alles bricht aber jäh zusammen, als es bei einer Feier zu einer Begegnung zwischen Hacine und Anthony kommt. Der alte Zorn kocht hoch, Hacine nimmt mit einer brutalen Attacke Rache dafür, dass Anthony ihn seinerzeit wegen der Motorrad-Geschichte bei seinem Vater angeschwärzt hat. Das ist für Anthonys Vater der Anlass, seinerseits Hacine die Zähne auszuschlagen.

Damit ist auch der endgültige Niedergang des Vaters besiegelt, der nach seiner Verurteilung wieder im Alkohol versinkt.

Anthony und Hacine finden sich schließlich gefangen in derselben engen Welt wie ihre Eltern, ihnen wird der soziale Aufstieg nicht gelingen. Eine letzte Begegnung der beiden verläuft ohne Aggression. Offenbar ist ihnen beiden klar, dass sie wie damals ihre Eltern in derselben Situation sind. Das Motorrad wird noch einmal zum Symbol dafür, dass alle Rechnungen zwischen ihnen inzwischen beglichen sind.

Mathieus Roman kann im Zusammenhang mit dem autobiographischen Essay „Rückkehr nach Reims“ von Didier Eribon sowie mit den autobiographischen Erzählungen von Annie Ernaux und Edouard Louis gesehen werden. Diese Autoren gehen der Frage nach, wie es kommen konnte, dass die ehemals sozialdemokratisch wählende Arbeiterschaft zunehmend in das nationalistische Lager abgewandert ist. Als selbst aus dem Arbeitermilieu Aufgestiegene haben sie für sich selbst erkannt, dass sie, obwohl links denkend, ihre soziales Herkunftsmilieu verachtet haben, für das sie theoretisch doch gerade eintreten wollten.

Mathieus Romanfiguren machen die innere und äußere Not derjenigen nachvollziehbar, die keine Chance haben, sich den Gesetzen des Marktes zu widersetzen, und die von der Politik alleine gelassen worden sind.

Sein Roman ist ein eindringliches Plädoyer für eine sozial verantwortliche Politik, die die Menschen bei industriellem Strukturwandel nicht alleine lässt, sondern neue Perspektiven entwickelt.

Der Roman schont seine gutbürgerlichen Mittelschichtsleser nicht, vielmehr mutet er ihnen die Langeweile, die Wut und die Perspektivlosigkeit zu, die über die Generationen weitergereicht werden. Ein aufrüttelndes Buch.

Der Roman ist im Hanser-Verlag erschienen, hat 443 Seiten und kostet 24 Euro.

Elke Trost

,

No comments yet.

Schreibe einen Kommentar