Beethovens Oper „Fidelio“ fiel bei der Uraufführung im November 1805 (noch unter dem Titel „Leonore“) durch, da das Publikum überwiegend aus Offizieren der gerade siegreich in Wien eingerückten napoleonischen Truppen bestand, die den Kampf um Freiheit von Unterdrückung natürlich nicht goutierten. Das änderte sich dann 1814 nach Napoleons Niederlage bei Leipzig bei der Premiere der endgültigen „Fidelio“-Fassung.
Ausgehend von diesen historischen Daten und dem Inhalt der Oper bietet es sich an, in dem Libretto mehr als das hohe Lied auf die Gattenliebe zu singen und stattdessen den geradezu genetischen Drang aller Völker nach Freiheit – was immer das ist – in den Mittelpunkt zu stellen. Das tut die Bremer Fassung von „Fidelio“, die Paul-Georg Dittrich jetzt in Darmstadt inszeniert hat.
Bereits die Ouvertüre betont den „Heldenfaktor“, den das Staatstheater Darmstadt derzeit unter dem Saisonmotto „Abschied von den Helden“ in den Vordergrund rückt. In einer düster-schwarz eingerichteten Bühne, die sich wie ein Burghof um den Orchestergraben zieht, steuert Katrin Gerstenberger als Leonore von der ersten Minute an das Geschehen. Ihr Kostüm, ein goldfarbener Hosenanzug mit einer entblößten Schulter, zitiert sowohl den Helden mit goldener Rüstung als auch die Amazonen. In einer rechteckigen „Guckkasten-Bühne“ hinter dem Orchestergraben heißt sie erst eine Plane mit dem Bild einer Burgfestung und enthüllt anschließend ein im späten Rokoko-Stil gekleidetes Paar: Marzelline und Jaquino. Zu den eher rau-direkten Klängen der Eröffnungsmusik ordnet sie die beiden zu einem gestellten Liebespaar an.
Das Portal des „Guckkastens“ enthält Jahreszahlen, die sich schnell als Daten verschiedener wichtiger „Fidelio“-Premieren herausstellen. Denn auf dem Textlaufband über der Bühne erscheinen eben diese Premierendaten samt Spielort, jeweils für etwa eine Szenenlänge. Wichtige Daten sind dabei 1814, 1928, 1938, 1945, 1968 und 1989. Die Jahreszahlen sind bedeutungsvoll, weil sie (fast) alle mit irgendeinem Freiheitskampf verbunden sind. Das dunkelste Datum ist dabei sicher 1938, das hellste der Oktober(!) 1989. Einzelne dieser Daten trägt Katrin Gerstenberger auf der entblößten Schulter.
Doch damit nicht genug, ersetzt diese Inszenierung die Rezitativ-Szenen durch Stimmen aus dem Off, die sich durchaus auch verfremdend verdoppeln oder verdreifachen. Dadurch gewinnen sie sprachliche Intensität und bilden nicht nur die Handlung ab. Statt einer szenischen Darstellung durch das singende Personal (wir vermeiden hier bewusst „gendergerechte“ Sprache) zeigt die Regie hier Bilder, Fotos oder Filmsequenzen aus dem Kontext der entsprechenden Jahreszahlen. Da erscheinen Napoleon und Metternich, Napoleon III., Kaiser Wilhelm I., die Bolschewisten samt rollendem Kinderwagen aus „Panzerkreuzer Potemkin, Stalin, Hitler, Rudi Dutschke und schließlich Günter Schabowski in der legendären Pressekonferenz. Obwohl die Einspielungen – natürlich – ohne Ton erfolgen, lenken sie wegen der – beabsichtigten! – starken Wirkung durchaus von der Handlung ab, die sich auch durch die Stimmen aus dem Off kaum durchsetzen kann. Dies kann man im Sinne einer Handlungskonsistenz durchaus kritisch sehen, doch diese Überlagerung historischer Ereignisse zum Thema „Freiheit“ verleiht der Oper eine ganz andere Durchschlagskraft. Die Alternative eines Ausspielens der vergeblichen Liebe Marzezzelines zu Fidelio wäre dann doch zu biedermeierlich und war wohl auch von Beethoven nur als Zugeständnis an den Publikumsgeschmack gedacht.
Eine besondere Rolle spielt der Chor der kurzfristig freigelassenen Gefangenen. Hier scharen sich die vom Kerkerdunkel halb erblindeten Männer um einen modernen Kopierer, dem sie nach und nach die eigenen Konterfeis entlocken und an die Bühnenrückwand heften. Damit greift die Inszenierung einmal den von despotischen Regimes beabsichtigten Identitätsverlust der Gefangenen auf, andererseits parodiert sie mit einem Augenzwinkern den Wettlauf der DDR-Bürger nach dem 9. November 1989 auf westliche Technologiewaren. Wenn Rocco die Gefangenen dann wieder zurück in die Verliese führen muss, erinnern sie in ihren Blaumännern und mit ihren Aldi-Tüten an die DDR-Bürger, die nach ein oder zwei Tagen aus dem Westen in die Heimat zurückkehrten.
Mit der Pause setzt auch eine Zäsur der Perspektive ein. Wurde das Geschehen bis hierher nur aus der Sicht der Bewacher – und Fidelios – gezeigt, so kehrt sich jetzt die Sichtweise um. Florestan beklagt im tiefen Kerker sein Schicksal und zeigt doch Standhaftigkeit, hofft auf Rettung, ahnt aber sein Ende. Er weiß nicht, dass ihm der Tod in Gestalt des Gouverneurs Pizarro naht, aber auch nicht, dass da, „wo Gefahr ist, das Rettende auch wächst“ – hier in Gestalt von Leonore. Wenn dann Leonore im Verlies erscheint, senkt sich ein veritabler Flügel aus dem Bühnenhimmel auf die Bühne, das Orchester verstummt, und der laut Libretto nah am Tode auf dem Boden dahinschmachtende Florestan alias Tenor Heiko Börner übernimmt höchstselbst die Begleitung an den Tasten.
Den Perspektivenwechsel verstärkt die Inszenierung mit einer „Tischgesellschaft“ freiwilliger Zuschauer. Rund um ein erhöhtes Podest auf leerer Bühne sitzen die Gäste bei Wein und Häppchen, während sich auf dem Podest der Schlussakt zwischen Florestan, Pizarro und Leonore abspielt. Dabei werden die Zuschauer aktiv einbezogen, indem sie Plakate hochhalten oder übergroße Pappmaché-Köpfe von Rocco, Florestan und Leonore aufsetzen. Später werden die multiplen Leonore-Kopien den mordlüsternen Pizarro bedrängen. Man fragt sich natürlich, welchen Zweck diese Einbeziehung der Zuschauer verfolgt, außer dem selbstreferentiellen, das Publikum zu beteiligen. Eine Deutung läuft darauf hinaus, dass auch das Publikum – wenn auch unwissentlich – zu den Unterdrückten des „Systems“ gehört. Das würde zwar zu dem Entstehungsort Bremen passen, wäre jedoch etwas weit hergeholt. Eher ruft diese Szene die aktuelle Situation in Syrien ins Gedächtnis, wo ganz Europa bei Wein und Häppchen (am Fernseher) zuschaut, ohne etwas zu tun.
Auch das Bühnenbild und die Kostümierung passen sich den Zeitläuften an. So zeigt eine frühe Szene den Burghof als naturalistische Pappmaché-Kulisse um die Mitte des 19. Jahrhunderts, während der Abstieg Leonore in den Keller mit der Premiere vom September 1945 verbunden wird: schwelende Trümmer und schief im Raum stehende Balken bilden den optischen Kontext. Die Kostüme wandeln sich vom grau-verstaubtem Rokoko über das Biedermeier und sozialistische Spießigkeit bis zur heutigen Zeit – ausgenommen Leonore.
Auch die Musik hat bei dieser Inszenierung Neuigkeiten zu bieten. Zwar ist es üblich, die 3. Leonoren-Ouvertüre, eine der Vorgängerinnen der „Fidelio“-Ouvertüre und lange schon eigenständiges Konzertwerk, vor dem Beginn des zweiten Teils zu spielen, aber die Darmstädter Inszenierung wagt noch mehr. Sie stellt die „Leonore Drei“ an das Ende, hinter den Schlussakkord des freudigen Finales. Im Anschluss daran folgt ein Auftragswerk der Komponistin Annette Schlünz, in dem diese Elemente von Beethovens „Fidelio“-Musik, vorzugsweise aus der letzten Szene, mit eigenen, modernen Klangflächen mischt. Dazu sind zwei Trompeter, Schlagzeuger, ein Akkordeonspieler sowie der Chor im Zuschauerraum verteilt und intonieren diese Klangmischungen in einer räumlichen Performance. Daraus ergeben sich nicht nur reizvolle und reibende Klangflächen, sondern die Oper wird musikalisch und damit in gewissem Sinne auch dramaturgisch in das 21. Jahrhundert transponiert. Klassik-Puristen werden dies unter Umständen ablehnen, doch der Gesamteindruck rechtfertigt dieses Experiment.
Auch das Orchester unter der Leitung von GMD Daniel Cohen beteiligt sich aktiv an dieser „Aktualisierung“. Cohen verzichtet bewusst auf den perfekten, homogenen Klang der hochgezüchteten Orchester des 20./21. Jahrhunderts und lehnt sich an die heute weit verbreitete historische Aufführungspraxis an. Das Orchester klingt dabei direkter und transparenter, verzichtet auf ausgeprägtes Legato und lässt die Töne oft einzeln stehen. Das wirkt jedoch nicht dilettantisch, sondern authentisch, weil es die Feinheiten der Technik in gewissem Sinne dem unmittelbaren Ausdruck opfert. Das gilt sowohl für die Ouvertüre zu Beginn als auch für die „Leonore“ und die szenische Musik, besonders aber für die abschließende Collage aus Beethoven und Schlünz, wo sich frühes 19. und 21. Jahrhundert in ähnlichem Gestus treffen.
Bleibt die Würdigung der darstellerischen und sängerischen Leistungen. Katrin Gerstenberger überzeugt nicht nur durch eine hoch präsente und klare, geradezu „heldenhafte“ Stimme, sondern auch durch ihre permanente – regiebedingte – Bühnenpräsenz. Sie spiegelt damit den Hang der „Helden“ wider, alles nach ihrem Wunsche zu überwachen und zu steuern. Heiko Börner ist ihr als Florestan im zweiten Teil ein ebenbürtiger Partner, im ersten Teil übernimmt diese Rolle Dong-Won Seo als Rocco. Michael Pegher als Jaquino und vor allem Karola Sophia Schmidt als Marzelline ergänzen das Duett Fidelio/Rocco mit ansprechenden Auftritten zum Quartett, und Wieland Satter darf als Pizarro Wut und Rachegefühle in vollen Zügen ausleben. Der Chor tritt in vielfältiger Gestalt auf, etwa als Mordgehilfen mit weißen Handschuhen bei Pizarros Rache-Arie oder als verzweifelte Gefangene, und verleiht diesen Szenen dank guter sängerischer und darstellerischer Leistungen deutliche Prägnanz.
Das Orchester muss bei dieser „Fidelio“-Inszenierung Sonderschichten einlegen, entledigt sich dieser Aufgabe aber mit Bravour und hoher Präzision. Demnächst kann man in diese Inszenierung auch die Jahreszahl 2019 mit in das Bühnenbild aufnehmen!
Frank Raudszus
Alle Fotos (c) Nils Heck
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