Als der noch junge Darmstädter GMD Daniel Cohen federnden Schrittes die Bühne betrat, schien an diesem Montag Abend noch alles nach dem üblichen Ritual eines Sinfoniekonzerts zu verlaufen: Kurzer Augenkontakt mit dem Orchester, Heben der Arme – und die Musik beginnt. Nicht so an diesem Abend, denn Daniel Cohen drehte sich wider Erwarten zum Publikum, hob das Mikrofon zum Mund und begann, sein angeblich(!) schlechtes Deutsch entschuldigend, mit einer eher ungewöhnlichen Einführung in das bevorstehende Programm. Dabei beließ er es nicht bei verbalen Ausführungen. Bei der 1. Sinfonie von Gustav Mahler zeigte Cohn seine eigenen Sangeskünste mit einem lockeren Vortrag des Hauptthemas, das aus den “ Liedern eines fahrenden Gesellen“ stammt. Und das Orchester durfte auch schon einmal eine kleine Kostprobe dieses Themas geben. Und Cohn legte gleich nach: bei den einführenden „Notations“ von Pierre Boulez ließ er das Thema eines dieser zwölf kurzen Stücke à zwölf Takten zu je zwölf Tönen vom Klavier vorspielen und dann noch kurz vom Orchester anspielen. Worauf diese Häufung der Zahl Zwölf nicht zuletzt parodistisch anspielte, dürfte nach einem Blick auf die Geschichte der modernen Musik klar sein.
Der Höhepunkt dieses Exkurses in die Entstehungsgeschichte der Werke dieses Abends folgte jedoch mit Alban Bergs Violinkonzerts „Dem Andenken eines Engels“. Dieses als Requiem auf Alma Mahlers und Walter Gropius´ Tochter Manon komponierte Konzert basiert unter anderem auf einem Choral von Bach. Diesen ließ Cohn sogleich vom Orchester – nein, nicht spielen, sondern singen. Dabei zeigten sich die Instrumentalmusiker als durchaus gelehrige Sänger. Vielleicht singen sie dann ja bei der nächsten Opernpremiere auch mit…..
Nach dieser so launigen wie informativen und mit viel Beifall bedachten Einführung ging es an die „Notations“ von Pierre Boulez aus dem Jahr 1945. Sie stellen eine klanglich und motivisch äußerst verdichtete Folge kurzer Motive dar, die sowohl thematisch als auch rhythmisch eine breite Palette abdecken. An der Grenze der Tonalität und jenseits dieser angesiedelt, erfordern sie sowohl von Interpreten wie von Rezipienten höchste Aufmerksamkeit. Musikalische Erwartungshaltungen werden nicht nur nicht erfüllt, sondern gar nicht erst geweckt. Die Überraschung ist das Grundprinzip, ohne dass deshalb der bloße Zufall regiert, und die gesamte musikalische Ausdrucksbreite eines Orchesters wird ohne einen Augenblick des Leerlaufs durchlaufen.
Dieses Auftaktstück war alles andere als ein „Warmlaufen“ der Musiker und des Publikums, und das Orchester glänzte bereits hier durch hohe Präzision, Transparenz und Schärfung des musikalischen Ausdrucks.
Alban Bergs Violinkonzert interpretierte der renommierte Geiger Michael Barenboim, der Sohn Daniel Barenboims – was nicht im Programmheft steht, wohl, um ihn nicht darauf zu reduzieren. Das Werk besteht nur aus zwei Sätzen, wobei die langsamen Tempi zu Beginn (Andante) und am Schluss (Adagio) überwiegen. Diese Musik verleiht der im wahrsten Sinne „unsagbaren“ Trauer über den Tod eines jungen Mädchens einen würdigen Ausdruck. Dabei verhindert die moderne Tonalität des 20. Jahrhunderts jegliche vordergründige Sentimentalität. Die Musik wirkt nicht als Spiegel der Trauer der Überlebenden, sondern versucht, die Verstorbene noch einmal zum Leben zu erwecken. Michael Barenboim und das Orchester bewiesen bei dieser Interpretation ein Höchstmaß an Sensibilität für die feinen Zwischentöne, ohne auch nur einen Augenblick lang die Spannung zu verlieren. Denn Trauer ist Spannung in Reinkultur, da mit existenziellem Verlust konfrontiert. Der Klang und das kurze Motiv sind die Hauptmerkmale dieses Konzerts. Nach langen, gar eingängigen Melodien wird man vergebens suchen, da diese nur reflexhafte Erwartungshaltungen bedienen und letztlich trösten. Berg ging es jedoch nicht um die Tröstung durch „schöne“ Musik, sondern um die Darstellung der Trauer.
Das gelang Michael Barenboim und dem Orchester in einem solchen Maße, dass die Zuhörer bis zum letzten, leise verklingenden Ton gebannt waren und anschließend mit fast eruptivem Beifall reagierten. Michael Barenboim spielte als Zugabe dann noch eine Solo-Partita von Johann Sebastian Bach.
Aufgrund der ausgedehnten ersten beiden Werke waren zu Beginn des zweiten Teils bereits zwei Drittel der üblichen Konzertdauer verstrichen, so dass ein langer Abend zu erwarten war. Doch dem Orchester schien das nichts auszumachen. Allerdings bekamen die Musiker unerwartete Verstärkung: Michael Barenboim mischte sich – auf eigenen Wunsch! – unter die ersten Geiger und spielte dort wie ein normales Ensemblemitglied mit. Das kann man als höchstes Kompliment eines Solisten an ein Orchester deuten!
Mahlers erste Sinfonie übernimmt nicht nur ein bekanntes Lied aus den „Liedern eines fahrenden Gesellen“ als Hauptthema, sondern es strahlt über drei Sätze einen ausgeprägten Liedcharakter aus. Jeder Satz – abgesehen vom Finalsatz – besticht durch seine ausgeprägte, jedoch nie „süffige“ Melodik. Naturlaute wie Kuckuck-Rufe und andere Vogelgeräusche verweisen immer wieder auf den programmatischen Charakter dieser Sinfonie, der jedoch nie aufdringlich wird. Die musikalischen Themen verströmen eine je eigene, aber vielfältige und komplexe Emotionalität, selbst dann, wenn der Rhythmus zeitweilig an Wiener Kaffeehausmusik erinnert. Dann bilden ausgefeilte Melodik und komplexe Klangflächen ein starkes Gegengewicht. Erstaunlich auch die Konzentration und die Präsenz des Orchesters im Finalsatz, der durch starke Zäsuren und scheinbar bevorstehende Schlussakkorde geprägt ist, nach denen die Musik mit einem anderen Grundtenor wieder von Neuem beginnt. Nach solchen langen, einem vermeintlichen Ende zustrebenden Spannungsbögen nicht an Spannung zu verlieren, ist ein große Herausforderung für die Musiker. Doch gerade hier liegt die Bedeutung von Mahlers Musik. Sie verläuft nicht mehr nach dem alten Muster des stetigen Spannungsaufbaus bis zum erlösenden Schlussakkord, sondern betrachtet das musikalische Material immer wieder aus neuen Perspektiven, nähert sich dem Kern sozusagen auf spiralförmigen Bahnen, die von temporären Abschwüngen und Neubeginn geprägt sind.
Dem Orchester und seinem Dirigenten gelang es, die Spannung bis zum – wirklich – letzten Akkord in einem solchen Maße zu halten, dass auch das Publikum keine sichtbaren Ermüdungserscheinungen zeigte. Und dieser letzte Akkord knallt dann wie ein Peitschenschlag.
Das Publikum war begeistert und verabschiedete das Ensemble nach fast drei Stunden mit stehenden Ovationen.
Frank Raudszus
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