In ihrem Roman „Bella Ciao“ erzählt die italienische Autorin Raffaella Romagnolo die Geschichte zweier Familien, die als Handwerker und Weinbauern in einem kleinen Dorf im Piemont leben. Als Kommunisten kämpfen sie für bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen. Der Roman umfasst die Zeit von 1860 bis 1946.
Mit ihnen erleben wir als Leser die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen Italiens in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Ausbeutung der Arbeiterinnen in den Seidenspinnerei-Fabriken, Bedrohung des Weinbaus durch die Reblaus, Italiens Verwicklung in den ersten Weltkrieg, Faschismus unter Mussolini und Italien als Verbündeter von Nazi-Deutschland im zweiten Weltkrieg, die Massenerschießung italienischer Widerstandskämpfer durch die Deutschen.
Raffaella Romagnolo zeigt, wie die großen Ereignisse sich in dem Dorf auf die Lebensbedingungen der Menschen auswirken: Söhne und Väter fallen im 1. Weltkrieg, in den zwanziger Jahren terrorisieren die Faschisten immer unverhohlener die Zivilbevölkerung, auch vor Mord an Kritikern aus den Reihen der Kommunisten schrecken sie nicht zurück.
Im Zentrum der Erzählung stehen Giulia und Anita, die als Kinder und als junge Mädchen so eng befreundet sind, dass sie sich wie Schwestern fühlen. Sie sind am selben Tag im Jahre 1880 geboren, Anita als Tochter eines Weinbauern und Halbpächters des Marchese, Giulia als Tochter eines Trunkenbolds und einer verhärmten Mutter, die sie schließlich allein großzieht. Schon als Kinder müssen die Mädchen in der Seidenspinnerei arbeiten. Als junge Mädchen schließen sie sich den Streiks und Protesten an, die im Jahre 1900 von den Kommunisten angestrengt werden. Die Fabrikbesitzer reagieren mit Zynismus: Sie schließen die Fabrik, angeblich wegen Umbaus. Das zwingt die Streikenden schließlich in die Knie und zurück an die Arbeit. Giulia will das nicht akzeptieren und weigert sich, in die Fabrik zurückzugehen. Zum ersten Mal ist sie nicht solidarisch mit der Freundin.
Getrennt werden die Freundinnen kurz darauf – wie kann es anders sein – durch die Liebe. Giulia erkennt, dass Anita dabei ist, ihr ihren Verlobten auszuspannen. Sie flieht sie aus der Enge des Heimatdorfes nach Genua. Von dort aus gelingt ihr die Emigration in die USA, wo sie im März 1901 ankommt. Dort erlebt sie eine wahre Aschenputtelgeschichte: Aus dem Nichts gelingt ihr der soziale Aufstieg durch eine glückliche Heirat.
Anita hingegen bleibt im Dorf, heiratet ihre große Liebe. Ihr Mann fällt im 1. Weltkrieg, der einzige Sohn wird als 16-jähriger von den Faschisten erschlagen. Dennoch gibt sie nicht auf, sie bleibt die gute Seele ihrer Familie, dazu gehört der Widerstand gegen Ausbeutung und faschistische Bedrohung. Symbol des Kampfes ist das rote Halstuch, das die Väter wie die Söhne tragen. Es dient als Zeichen der Hoffnung und der Entschlossenheit weiterzukämpfen, als es als einziger Hinweis auf die Identität eines Toten der Familie in einem Massengrab gefunden wird.
Die Handlung setzt ein, als die todkranke Giulia 1946 zu einem Besuch in ihren Heimatort zurückkehrt. Sie glaubt, dass sie ihren Sohn Michael auf einer Geschäftsreise begleitet. Sie weiß nicht, dass die Reise von ihrer Schwiegertochter arrangiert ist, damit sie noch einmal in die Vergangenheit und damit in den Kreis der Familie eintauchen kann. Mit Giulia gehen wir durch den Ort, der ihr fremd und vertraut zugleich ist. Für Giulia gehen durch die vielen sinnlichen Eindrücke immer wieder Erinnerungsfenster auf, so dass die Vergangenheit sich auch den Lesern nach und nach erschließt.
Am selben Tag erfährt Anita von Giulias Sohn, dass Giulia im Ort ist. Er lädt sie zu einem gemeinsamen Abendessen ein. Auch bei Anita kommen nun den ganzen Tag über die Erinnerungen hoch. So erleben wir die vielfältige Vergangenheit des Dorfes auch aus Anitas Sicht.
Der Roman zielt auf die Wiederbegegnung der beiden Frauen, das ist von Anfang an offensichtlich. Diese Wiederbegegnung findet gegen Schluss des Romans statt. Und hier deutet sich auch die Schwäche des Romans an, in dem es oft sehr stark menschelt. Natürlich ist die Wiederbegegnung nach fast 50 Jahren ganz unproblematisch, die beiden Freundinnen sind sich so vertraut, als wären sie nie getrennt gewesen und als hätten ihre Lebenswege nicht völlig verschiedene Richtungen genommen. In dieser Hinsicht haben wir hier ein „happy end“, das nur durch die tödliche Krankheit Giulias getrübt wird.
Schwächen hat der Roman auch immer dann, wenn es um Liebesgeschichten geht. Da muss Raffaella Romagnolo die Liebesszenen bis ins Detail beschreiben, was bisweilen an Kitsch grenzt.
Diese Gefahr des Abgleitens in kitschiges Melodram wird insbesondere in der Parallelhandlung sichtbar. Die junge Marchese Adelaida hat sich von ihrem Vater das Gut und die Ländereien überschreiben lassen, als sie nach seinem Willen den Sohn des Verwalters heiratet, nachdem ihre große Liebe Nico, ausgerechnet Anitas Sohn, von den Faschisten getötet worden ist. Der Verwalter verkörpert das Böse. Er hat jahrelang auf Kosten des Marchese in die eigene Tasche gewirtschaftet und dadurch den Marchese nahezu ruiniert. Natürlich schlägt er sich auf die Seite der Faschisten und droht allen, die sich ihm entgegenstellen.
Im Kontrast zu dem bösen Verwalter steht die „gute“ Adelaida. Nach dem frühen Tod ihres Mannes kämpft sie an der Seite der kommunistischen Familien gegen Unrecht und Faschismus. Mit ihrem Verwalter Musso gelingt es ihr, das Gut durch den Krieg zu bekommen und die Erträge gerecht mit den Pächtern zu teilen. In den geheimen unterirdischen Gängen ihres Schlosses lässt sie verbotenerweise Vorräte anlegen, hier werden auch verwundete Partisanenkämpfer versorgt und gesund gepflegt.
Auch Musso geht als Partisanenführer in die Berge, kämpft – natürlich – klüger als andere und bringt sich und seine Jungs wieder nach Hause.
Wie das Happy End aussieht, soll hier nicht verraten werden …
Dennoch: Trotz ihrer Neigung zum Melodram erzählt Raffaella Romagnolo eindringlich gerade in solchen Passagen, wo es um Leid und Tod geht. In diesen Darstellungen werden die Figuren individualisiert und in ihrer inneren Not als Charaktere deutlich. Allerdings kommt man nicht umhin, bei der Geschichte der beiden unterschiedlichen Freundinnen mit den so unterschiedlichen Lebenswegen an Elena Ferrante und ihre „Geniale Freundin“ zu denken.
Die große Stärke des Romans liegt in der Darstellung der historischen und gesellschaftlichen Entwicklung in Italien, besonders aber auch der Rolle der Familie in der italienischen Gesellschaft. Die Fakten sind gut recherchiert und plausibel mit der Handlung verknüpft.
Insgesamt ein durchaus lesenswerter Roman.
Das Buch ist im Diogenes Verlag erschienen, hat 514 Seiten und kostet 24 Euro.
Elke Trost
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