Schon die erste Szene dieser Inszenierung ist symptomatisch: da reinigt der sich degradiert fühlende Jago höchst unwillig die Urinale einer Herrentoilette. Das ist durchaus ein starkes Bild für das Gefühl der persönlichen Kränkung, nur passt die Kostümierung mit Anzug und Krawatte nicht ganz dazu, verstärkt sie doch nur die Demütigung. Man mag das als bewusst gewählten Kontrast sehen, doch kann sich so etwas auch totlaufen, wenn man es überzieht.
Dieses Überziehen von Regie-Effekten auf Kosten der dramaturgischen Logik prägt die gesamte Neu-Inszenierung von Shakespeares „Othello“ unter der Regie von Volker Rueb im Staatstheater Darmstadt, wobei die Absicht durchaus nachvollziehbar, die Durchführung im Einzelfall jedoch fragwürdig ist.
Da die deutsche Version eines englischen Theaterstücks in jedem Fall eine Übersetzung erfordert, sind gewisse Einschränkungen unvermeidbar. Die Übersetzungen hängen sowohl von dem übersetzenden Individuum als auch von dessem historischen Kontext ab. Schlegel und Tieck haben zu Beginn des 19. Jahrhunderts Shakespeares für das Volk geschriebene Stücke sprachlich und inhaltlich „gereinigt“, will sagen, alles Anstößige weggelassen oder in beschönigende deutsche Worte gefasst. Damit wurde Shakespeare zur moralischen Bildungsanstalt für ein großbürgerliches Publikum, das sich an hehren Gedanken und Gefühlen laben wollte, statt der kruden Realität ins Auge zu sehen.
Diese groteske Verzerrung der Stücke Shakespeares hat die Theaterwelt in den letzten Dekaden nicht nur erkannt, sondern in Gestalt aktualisierter Übersetzungen auch weitgehend bereinigt. Das Staatstheater Wiesbaden hatte seiner Neuinszenierung im Jahr 2012 eine neue Übersetzung zugrunde gelegt, die zwar die heutige Umgangssprache nutzte, aber diese in die Struktur der Shakespeare-Verse einbettete. Das Staatstheater Darmstadt ist jetzt einen Schritt weiter gegangen und hat eine neue Übersetzung von drei Autoren, darunter Feridun Zaimoglu, herangezogen. Diese besteht im Grunde genommen aus einer neuen Fassung in deutscher Sprache, die auf der Szenenfolge und auf Shakespeares Dialogen besteht. Nur in den Monologen lehnen sich die Übersetzer auch formal enger an Shakespeare an, da dort nicht die Forderung nach einer „natürlichen“ Alltagssprache besteht.
Darüber hinaus bevorzugt die neue Übersetzung bewusst eine mehr als deftige Sprache, wie sie ja auch Shakespeare in seinen volksnahen Stücken schon gepflegt hat. Die Flut von „F…“-Worten und ähnlichen Juwelen des Gossenjargons erweckt dabei den Eindruck eines Selbstzwecks. Vor allem Jago und Rodrigo wälzen sich förmlich in unflätigen Tiraden aus den untersten sprachlichen – und damit sozialen – Schubladen. Abgesehen von der Tatsache, dass man damit heute kaum noch ein Publikum provozieren kann, ergibt sich daraus ein dramaturgisches Glaubwürdigkeitsproblem. Das gesamte Personentableau dieses Stücks rekrutiert sich aus der obersten sozialen Schicht Venedigs. Da Rueb die Handlung sprachlich und äußerlich in Gestalt der Kostüme in unsere heutige Zeit verlegt – zu Beginn sieht man ein bühnenweites Panoramafoto des Bankenviertels von Frankfurt -, legt er zwangsläufig dieselbe gesellschaftliche Ebene zugrunde. Kurz: das Stück spielt im Bankenviertel, nicht unter jugendlichen Schulabbrechern. Wenn auch Männer der oberen Schicht wie andere gerne einmal deftig – vor allem mit sexuellem Einschlag – reden, ist die gewählte Ausdrucksweise dennoch alles andere als typisch. Eine an menschlichen Urtrieben statt an hehren Idealen orientierte Sprache hätte sicherlich auch in etwas weniger extremer Form ihre Wirkung ausgeübt. So läuft sich jedoch der Gossenjargon nach einiger Zeit ohne die erhoffte provokative Wirkung etwas tot und löst höchstens vereinzelte Lacher an Stellen aus, die eigentlich nicht zum Lachen sind.
Auch bei der Handlung nimmt Rueb eigenmächtige Änderungen vor, die sich nicht immer als zwingend erweisen. bei Shakespeare findet Jagos Frau Emilia zufällig Desdemonas Halstuch, und Jago entreißt es ihr buchstäblich, um es für seine Zwecke der Schürung von Othellos Eifersucht zu nutzen. Bei Rueb präsentiert Emilia Jago dieses Tuch fast jubelnd als Beute. Dann kann sie natürlich auch nicht mehr Othello nach dem Mord an Desdemona über die wahren Hintergründe aufklären. Cassio, der bei Shakespeare über Jago zu urteilen hat, stirbt bei Rueb vorzeitig durch dessen Hand.
Diese signifikanten Abweichungen sind jedoch in Ruebs Version unwichtig, da sie von seiner größten dramaturgischen Volte überdeckt werden: bei der dramatischen Szene im ehelichen Gemach – „Hast Du zur Nacht gebetet, Desdemona?“ – wartet der Zuschauer während eines langen Wortgemetzels zwischen Othello und Desdemona vergeblich auf den Mord. Stattdessen kommt auf dem Höhepunkt des erbitterten Streits ein kleines farbiges Mädchen aus dem Hintergrund, greift die Hände der zerstrittenen Eheleute und schaut ihnen strahlend in die Augen. Diese schauen sich an und entlaufen dem ganzen Drama Hand in Hand durch den Zuschauerraum und – wie im Video zu sehen – durch das Foyer auf den Theatervorplatz. Ende gut, alles gut – Friede, Freude, Eierkuchen.
Wenn Volker Rueb dieses Ende als ironisches Happy End gedacht haben sollte, hat es seine Wirkung komplett verfehlt, vor allem, da sich nach dem Auszug des plötzlich so glücklichen Trios ein Vortrag über Rassismus und Toleranz aus den Lausprechern über das Publikum ergießt, der von einem Lebensberater oder einer städtischen Gleichstellungsstelle kommen könnte. Ernst, pädagogisch korrekt und etwas betulich. Jeder eventuell ironische Ansatz ist damit zugeschüttet. Das Publikum sieht sich innerhalb einer Minute vom typischen – und konsistenten! – Shakespeare-Finale in einen Rosamunde-Pilcher-Film versetzt. Wenn wir uns nur alle die Hände geben und guten Willen zeigen, können wir alle Probleme lösen. Die zentralen Themen des Stücks, das eigentlich „Jago“ heißen müsste, sind nämlich Hass, Rache und die Intrige. Der Rassismus ist bei Shakespeare nur ein dramaturgisches Mittel zum Zweck, um Jago ein emotionales Argument an die Hand zu geben. Bei Rueb wird er am Ende zum Schwerpunkt einer Inszenierung, die über fast fünf Akte trotz der erwähnten logischen Brüche überzeugen konnte.
Die schauspielerischen Leistungen trugen entscheidend dazu bei, dass dieses Stück das Publikum über fast fünf Akte in seinen Bann zog. Daran hat Thorsten Loeb als Jago einen wesentlichen Anteil. Wie er diesen Jago mit all seinen psychischen Abgründen spielt, ist schon beeindruckend. Autoritär und gnadenlos gegenüber seinem Spießgesellen Rodrigo, aber blitzschnell kumpelhaft lockend, wenn dieser aussteigen will. Staatsmännisch loyal gegenüber Othello, ekelhaft machistisch bis zur Tätlichkeit gegenüber seiner Frau und gekonnt schleimend gegenüber Desdemona. Loebs Jago hat all diese Rollen verinnerlicht und kann in Sekundenschnelle umschalten. Diese Figur verursacht buchstäblich einen eisigen Schauer des Grauens.
Das neuerdings hochgekochte „Blackfacing“-Problem der Othello-Rolle hat man in Darmstadt elegant gelöst. Ernest Allen Hausmann hat noch einen sichtbaren Rest afro-amerikanischer Gene in sich, so dass sein „Fremden-Status“ sofort sichtbar wird, ohne dass diese Besetzung in irgendeiner Weise aufgesetzt wirkt. Er spielt seine Rolle des „Guten“ glaubwürdig und auch mit viel Emphase, leidet jedoch ein wenig unter dem Umstand, dass diese Rolle wenig Potential in sich trägt. Othello ist das Opfer der Intrige, die er nicht bemerkt. Einige Interpretationen dieser Rolle behaupten, Othello hege wegen seiner Andersartigkeit einen Minderwertigkeitskomplex und verdächtige seine Umwelt schnell, ihn zu missachten, doch diese Sicht geht weder aus dem Text noch speziell aus dieser Inszenierung zwingend hervor. Hier schlägt eher die hohe Kunst von Jagos Intrige hervor, die Othello psychisch förmlich weich kocht.
Marielle Layer spielt die Desdemona gegen den üblichen Strich als sehr emanzipierte junge Frau, die ihren Geliebten auch vor den Augen des eigenen Vaters buchstäblich anspringt und ihrem Vater gegenüber auch verbal klare Kante zeigt. Auch Othello gegenüber wahrt sie bis zum Schluss die Augenhöhe und eine zwar zunehmend entsetzte, aber kontrollierte Distanz. Judith Niederkoflers Emilia dagegen verharrt dramaturgisch etwas im Vagen. Einerseits erscheint sie als Jagos Komplizin, wenn sie ihm triumphierend Desdemonas Tuch zeigt, dann wieder zeigt sie ihm gegenüber eine entschlossene Ablehnung und erweist sich im Zwiegespräch mit Desdemona als fast schon zynische Männerkennerin und -verächterin.
Hubert Schlemmer gibt den Barantio als „alten, weißen Mann“ mit AfD-Mitgliedschaft. Das zeigt sich nicht nur an dem emphatischen Appell an die „Freunde des Aufbruchs“ – FdA als Anagramm von AfD – sondern auch an der Fluglatt-Aktion, bei der er ein unsägliches rassistisches Papier auf das Publikum niederregnen lässt. Béla Milan Uhrlau spielt den Rodrigo als frustrierte Laberbacke in Adidas-Hose mit überschaubarem intellektuellem Horizont und als Dauernutzer von Whatsapp, dessen Kurzdialoge man per Video sieht. Daniel Scholz hat mit Cassio eine undankbare Rolle, wird dieser Cassio doch dramaturgisch von einer psychologischen Ecke in die andere getrieben. Er ist weder großer Gegenspieler von Jago noch eine andere eigenständige dramaturgische Figur. Man benötigt ihn des Öfteren für den Fortgang der Handlung. Doch Scholz verleiht dieser Figur Sichtbarkeit. Bleibt noch Erwin Aljukic zu nennen, der einen kurzen Auftritt als Herzog hat.
Die Kostümierung ist nicht immer nachvollziehbar. So treten alle Figuren durchweg in heutiger Kleidung auf, bis Othello plötzlich im Renaissance-Wams erscheint. Dramaturgisch nachvollziehbar ist das nicht, vor allem, da er danach wieder im weißen „Leisure“-Anzug mit Hosenträgern daherkommt. Bei der Rückkehr vom Türkenfeldzug dagegen trägt er eine bewusst lächerlich geschnittene Generalsuniform ganz in Weiß mit Ordensbändern. Das ist noch nicht einmal Militarismuskritik sondern eher ein Witz über „Bananenrepubliken“. Dagegen hat die Kostümbildnerin Dorothee Joisten bei Jago eine originelle Idee entwickelt. Bei einem seiner intriganten Gespräche mit Othello und anderen Teilnehmern trägt er eine graue Hose und eine beige Jacke wie Erich Honecker in seinen späten Tagen – oder wie ein „unauffälliger“ Stasi-Offizier. Das ist gut gemacht.
Diese Inszenierung hat neben den intensiven schauspielerischen Leistungen einen weiteren Vorteil: der eigenwillige Umgang mit der literarischen Vorlage und vor allem das „Habt-euch-lieb“-Ende geben Anlass zu latent endlosen Diskussionen, wobei nicht jede(r) darin ein ironisches Apercu oder gar naive Plattheit sehen wird.
Das Premierenpublikum jedenfalls hat allen(!) Beteiligten kräftig applaudiert.
Frank Raudszus
No comments yet.