Franz Schubert wurde im 19. Jahrhundert lange Zeit als „Salonmusiker“ abgetan, obwohl schon kurz nach seinem frühen Tod Robert Schumann seine Qualitäten erkannt hatte. Viele Kritiker missverstanden seine von durchaus eingängigen Themen geprägte Musik als sentimental und nichtssagend. Erst im frühen 20. Jahrhundert erkannte man seine Bedeutung, doch das Vorurteil der Sentimentalität blieb in vielen Köpfen präsent. Dazu trugen auch viele Interpreten bei, die Schuberts „Innigkeit“ und „Wehmut“ betonten und seine Klaviersonaten zum Beispiel mit Vorliebe wie Lieder spielten. Da ist es gut, wenn von Zeit zu Zeit Schuberts nicht nur zeitliche Nähe zu Beethoven in den Vordergrund gestellt wird.
Die japanische Pianistin Mitsuko Uchida leistete diesen Dienst am Schubert-Bild bei ihrem Klavierabend am 20. August auf Schloss Johannisberg im Rahmen des Rheingau Musik Festivals. Sie präsentierte an einem einzigen Abend in einer wahren Parforce-Tour Schuberts letzte Sonaten-„Trias“ aus dem Jahr 1828 mit den Sonaten Nr. 19 in c-Moll, Nr. 20 in A-Dur und Nr. 21 in B-Dur. Welch physische und psychische Anforderungen dieses Programm an die Solistin stellte, verdeutlichte die Ansage von Michael Herrmann, dass Mitsuko Uchida nach der ersten Sonate eine fünfminütige Pause einlegen würde, was die Besucher bitte nicht als offizielle Pause betrachten sollten.
Schon die ersten Takte der c-Moll-Sonate zeigten die Richtung an: markant, fast schroff hämmerte Mitsuko Uchida die Akkorde in die Tasten und zeigte gleich, an welches Vorbild Schubert bei dieser Eröffnung gedacht haben muss: an Beethovens „Pathétique“, die ebenfalls in c-Moll steht. Im weiteren Verlauf verzichtet sie auf jegliche „Romantisierung“ und betonte vor allem die Kontraste und abrupten Brüche. Das Adagio des zweiten Satzes spielte Uchida bewusst gegen den Strich des eingängigen Themas, ließ die einzelnen Noten wie Steine in die Tasten fallen und symbolisierte durch diese Vereinzelung und Separierung der einzelnen Noten die Einsamkeit, die Schubert in seiner Musik ausdrücken wollte. Auch das Menuett und Trio haben bei Uchida nichts tänzerisch Unbefangenes, sondern verweisen durch minimale Verzögerungen und Verweilen auf einzelnen Tönen auf die Unerreichbarkeit eines geselligen und leichten Lebens. Selbst das scheinbar leicht dahin perlende Allegro des letzten Satzes verströmt keinen Augenblick lang reine Heiterkeit, sondern die Sehnsucht danach, wie es hätte sein können.
Nicht viel anders hört sich die A-Dur-Sonate aus Mitsuko Uchidas Fingern an. Obwohl die Tonart natürlich heller und lebensfroher klingt, überwiegen auch hier nach einem schroffen Beginn die leidenden, ja fast verzweifelten Momente, die sich auch durch gefällige Melodielinien nicht kaschieren lassen. Mitsuko Uchida ließ in den wechselnden Motiven und deren abgewandelten Wiederholungen die Spannungen und Kontraste deutlich werden, ohne deswegen Schuberts Musik zu sehr „gegen den Strich zu bürsten“. Ein Teil von Schuberts eingängiger Liedhaftigkeit blieb stets erhalten, der emotional aufgeladene und eruptive Aspekt überlagerte bei ihr aber immer wieder den liedhaften.
Besonders eindringlich gestaltete sie das Andantino im düsteren fis-Moll. Wie schwere Tropfen fielen die Noten der linken Hand förmlich ins Nichts, und die rechte Hand ließ darüber langsam das sparsam-schwermütige Thema schweben. Selten wurden Trostlosigkeit und Einsamkeit eindrucksvoller in Musik umgesetzt. Aus diesem emotionalen Tief kann sich auch das Scherzo nicht lösen, das mit fast schon grell aufbegehrenden Akkordketten einen nicht gerade heiteren Ausbruchsversuch wagt. Gerade in kompromisslosen, so gar nicht tänzerisch leichten Scherzi zeigt Schubert seine Nähe zu Beethoven, und Mitsuko Uchida arbeitete diese Nähe geradezu paradigmatisch heraus. Da wirkt das nachdenklich dahinfließende Rondo schon fast wie ein Aufatmen, lässt es doch am Ende dieser Sonate so etwas wie Hoffnung aufkommen.
Die letzte, posthume Sonate in B-Dur fließt dann eher in einem fast jenseitig ruhigen Strom dahin. Schon der Beginn mit seinen weichen Oktavketten markiert den Grundtenor dieses Werks, in dem Schubert so etwas wie Frieden gefunden hat und mit seinem unglücklichen Leben abgeschlossen hat. Auch die Folgesätze strahlen eher eine ausgewogene, befriedete Stimmung aus, die dennoch von Zeit zu Zeit durch Eruptionen aufgebrochen wird, so etwa im Scherzo mit dem Trio. Der letzte Satz ist dann eine lang sich hinziehende Hymne mit ausgeprägt nachdenklichen und heiter resignierenden Zügen. Hier wird die Geschlossenheit und – ja! – Schönheit der musikalischen Themen noch einmal mit viel Bedacht ausgebreitet, und Mitsuko Uchida hielt sich genau auf dem schmalen Grat zwischen falscher Dramatisierung und sentimentaler Stimmung. Auch dieser Satz erhielt dadurch Kontur und die typische Schubertsche Ambivalenz.
Das Publikum blieb bis zum Schluss höchst aufmerksam und konzentriert und dankte der Künstlerin mit begeistertem Applaus. Eine Zugabe wäre nach diesen zweieinhalb Stunden konzentriertester und emotional aufgeladener Musik fehl am Platze gewesen, und so entließ Mitsuko Uchida das Publikum mit einer tiefen Verbeugung – vor Schubert.
Frank Raudszus
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