Der Untertitel dieses voluminösen Buches suggeriert, dass es sich hier um eine breite und vor allem repräsentative Darstellung der deutschen Intellektuellenwelt während der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts handelt. Das trifft auch insofern zu, dass alle intellektuellen Schwergewichte von Adorno bis Zweig vorgestellt werden, ihre Bedeutung dabei jedoch abhängig ist von ihrer jeweiligen Beziehung zu dem wahren Mittelpunkt dieses Buches: Walter Benjamin. Im Grunde ist dieses Buch eine Biographie dieses jüdischen Intellektuellen, die sich jedoch auf seine philosophischen und literarischen Werke konzentriert und typische biographische Daten nur in der Detailtiefe behandelt, die für das Verständnis der jeweiligen Situation und seiner Denkweise erforderlich ist. So unterschlägt die Autorin zwar Benjamins wechselnde erotische Beziehungen nicht, klopft sie jedoch als Wissenschaftlerin auf ihre intellektuelle (Langzeit-)Wirkung auf seine Arbeit ab und beschränkt sich dann auf knappe Hinweise. Mit gutem Grund verzichtet sie auf Elemente einer unterhaltsamen weil „menschelnden“ Biographie. Das kann dann soweit führen, dass der Leser wenig über Benjamins Verhältnis zu seinem Sohn Stefan aus erster Ehe erfährt. Dessen Lebenslauf wird punktuell erwähnt, hauptsächlich anlässlich der wenigen Treffen nach der Scheidung, und spielt ansonsten keine größere Rolle.
Das Buch ist chronologisch aufgebaut, obwohl die Autorin diese Chronologie nur als Rahmen benutzt. Wo es ihr angemessen erscheint, dehnt sie den Rahmen durchaus und löst sich – vor allem in kurzen Rückblenden – auch einmal von ihm. Sie beginnt mit Benjamins Jugend und betont seine – noch schwärmerische – Begeisterung für die Jugendbewegung und speziell für Stefan George. Damit geht schon früh eine kompromisslose Ablehnung des Lebensstils seiner Eltern einher, die er für bürgerlich in einem deutlich abwertenden Sinn hält. Schon die Einrichtung des großbürgerlichen Hauses stößt ihn ab, was ihn jedoch später nicht daran hindert, selbst eine solche Einrichtung vorzuziehen und auch seinen Kleidungsstil und seine gesellschaftlichen Formen ganz denen seiner Eltern anzupassen. Grunenberg bemerkt dies lakonisch, ohne diesen Widerspruch jedoch grundsätzlich gegen die Person Benjamin zu verwenden.
Das gilt auch für seine wirtschaftlichen Verhältnisse. Nach seiner Promotion ist er zu keinerlei Kompromissen hinsichtlich eines „Brotberufes“ bereit und fordert von seinen – so heftig kritisierten – Eltern weitere Alimentierung, da denkerische Tätigkeit seiner Meinung nach einen weitaus höheren Wert als Broterwerb besitzt. Diese Widersprüchlichkeit wird er bis zum Tode der Eltern und darüber hinaus bei der Verteilung des Erbes ignorieren oder gar als solche gar nicht bemerken. Doch die Autorin belässt auch diese Eigenart an ihrem ephemeren Ort und dreht Benjamin daraus nachträglich keinen Strick. Man hätte jedoch auch nichts gegen den Vorwurf intellektuellen Hochmuts einwenden können.
Der Schwerpunkt der Ausführungen gilt natürlich Benjamins Denksystem, das sich in verschiedenen Werken niederschlägt und unterschiedliche Stadien durchlaufen hat. Dabei hat Benjamin stets den „messianischen“ Grundton beibehalten, mit dem er die „Erlösung“ aus der geistigen Erstarrung des 19. Jahrhunderts beschworen hat. Lange Zeit sollte diese Erlösung aus der Kunst – sprich: Literatur und Philosophie – kommen, und Benjamin sah sich dabei als „ersten Kritiker“. Dem Kritiker räumte er dabei einen mindestens ebenso hohen Stellenwert wie dem Künstler ein, ja, er glaubte, dass erst der Kritiker die Wahrheit hinter dem Kunstwerk herausarbeiten könne, wohl wegen einer vermeintlichen Befangenheit des Künstlers. Diese hohe Selbsteinschätzung hat seltsamerweise bei den Künstlern selbst keinen Protest hervorgerufen, wohl, weil diese seine anspruchsvollen und an eine intellektuelle Elite gerichteten Schriften gar nicht lasen. Er selbst glaubte an die elitäre Stellung und Kraft der intellektuellen Avantgarde, zu der er sich ohne falsche Eitelkeit zählte. Die Befreiung der Menschen aus den verkrusteten Verhältnissen des ausgehenden 19. Jahrhunderts konnte einer weit verbreiteten Meinung unter den Intellektuellen nur durch eine intellektuelle Elite erfolgen.
Sehr gut arbeitet die Autorin Benjamins innere geistige Struktur heraus, die von dem unbedingten Willen getrieben war, Religion, Philosophie und Wissenschaft in einem neuen Denkgebäude zu vereinen und miteinander zu versöhnen. Spiritualität, säkulare Sinnsuche und die rationale Erkundung der „objektiven“ Welt hatten sich seiner Meinung nach in ihren jeweiligen Behausungen eingerichtet und voneinander abgegrenzt, und diese Abschottung galt es zu beseitigen und durch ein neues System zu ersetzen. Dabei ging er sogar soweit, den Surrealismus als Grundlage und Ausgangspunkt einer geistigen Revolution zumindest des Abendlandes heranzuziehen.
Man könnte an dieser Stelle über den hohen Anspruch dieses Ansatzes räsonnieren, doch Grunenberg verzichtet auch darauf und bleibt der Rolle der berichtenden Beobachterin treu. Selbst als Benjamin Mitte der 20er Jahre über eine lettische Bekannte und enge Freundin mit dem Marxismus in engeren Kontakt kommt, ändert das seine Grundausrichtung nicht. Er ist nicht nur fasziniert von diesem neuen Geschichtsmodell, sondern erkennt darin auch ein messianisches Element, das genau in seinen Traum von einer neuen, umfassenden Weltsicht passt. Spätestens nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten wird er den Marxismus in der konkreten Form des sowjetischen Systems als einzige Alternative zum Faschismus und letzte Rettungsmöglichkeit für die Welt sehen. Allerdings glaubt er in naiver Selbstüberschätzung auch, er könne den sowjetischen Machthabern als Intellektueller bei der Suche nach dem „richtigen“, weil messianischen Marxismus helfen. Fehlanzeige!
Angesichts der ungebrochenen Marxismus-Bewunderung fragt man sich als Leser dabei, warum Benjamin dann – wie es viele seiner linksintellektuellen Zeitgenossen (Horkheimer, Adorno, Brecht) taten – noch vor dem Krieg gegen die Sowjetunion nicht dorthin, sondern in die ideologisch verhassten, weil erz-kapitalistischen USA emigrieren wollte. Wie Benjamin waren viele von ihnen in den dreißiger Jahren in der Sowjetunion und sangen – von der dortigen Repression nur leicht getrübte – Lobeshymnen, doch dort leben wollte offensichtlich keiner von ihnen.
Die Autorin legt auch diese widersprüchlichen Fakten nur auf den Tisch und kommentiert sie nicht weiter, denn ihre Hauptfigur ist und bleibt Benjamin, der bezüglich Exil stets als passiv Getriebener agierte. Nach der Machtübernahme konnte er gerade noch nach Paris fliehen und fristete hier ein wirtschaftlich jämmerliches, aber intellektuell höchst produktives Dasein. Er übersetzte Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“, fertigte Essays über Paris als Metapher für den Abstieg der westlichen bürgerlichen Gesellschaft(en) an, war fasziniert vom Surrealismus und schilderte die problematische und hoch komplexe Situation des Künstlers gegenüber der jeweiligen gesellschaftlichen Situation am Beispiel Baudelaires. Doch bei all diesen höchst anspruchsvollen und weit ausgreifenden Werken hatte er stets mit der wirtschaftlichen Seite zu kämpfen, sprich: mit den Zeitschriften oder Verlagen, denen er seine Produktionen zur Veröffentlichung anbot. Was er stets abgelehnt hatte, musste er hier auf oftmals demütigende Weise durchleben: intellektuelle Gesellschaftskritik aus seiner ganz persönlichen Sicht für den Broterwerb verkaufen. Dabei spielte das Institut für Sozialforschung (später „Frankfurter Schule“) unter Horkheimer und Adorno, das seinen Hauptsitz in den späten Dreißigern nach New York(!) verlegt hatte, eine wichtige Rolle. Zwar führte man ihn dort als festen Mitarbeiter und bemühte sich, ihn wirtschaftlich über Wasser zu halten, jedoch musste er sich dafür den stark abweichenden Meinungen und redaktionellen Kritiken seiner Auftraggeber, vor allem Adornos, stellen und an seinen Konzepten auf Druck des Instituts starke Abstriche machen.
Antonia Grunenberg gelingt es meisterhaft, den im Laufe der Jahre kritisch sich zuspitzenden Konflikt zwischen der eigenen Weltsicht, der politischen Entwicklung, den abweichenden Meinungen vieler intellektueller Zeitgenossen und Weggefährten sowie der sich dramatisch verschlechternden persönlichen wirtschaftlichen Lage auszuhalten und durchzustehen. Der zunehmend sich abzeichnende repressive und despotische Charakter des sowjetischen Systems nagte nicht nur an Benjamins Nerven. Eine ganze Generation linksintellektueller Kreise hatte voll auf den revolutionären bis erlösenden Charakter des erstmals real existierenden Sozialismus gesetzt und musste nun den Stalinschen Terror mit ansehen. Die Reaktionen – auch bei Benjamin – reichten vom einfachen Ignorieren bis hin zur Bagatellisierung im Sinne von „Die Weltrevolution verlangt Opfer“. Doch die eigene Intelligenz spielte dabei den meisten insofern einen Streich, als sie die Verdrängung nicht zuließ und zu nagenden, wenn auch unter Selbstzensur stehenden Zweifeln führten. Davon konnte sich auch Benjamin nicht befreien, den selbst der Nichtangriffspakt zwischen Hitler und Stalin von 1939 nicht zu einer eindeutigen Verurteilung des Sowjetsystems veranlassen konnte. Zu groß war der langjährige, geradezu messianische Glaube an die erlösende Kraft des Marxismus, und obendrein war es gerade für selbstbewusste Intellektuelle mit Eliteverständnis wie Benjamin sehr schwer, eine grundlegende Weltanschauung nach ein bis zwei Dekaden schlicht als Irrtum abzulegen wie ein Kleidungsstück. Schließlich steht man dann nackt da!
Diese Entwicklung führte dann schließlich zusammen mit der persönlichen Lebensbedrohung durch den Sieg Nazi-Deutschlands über Frankreich zu einer Zerrüttung von Benjamins Nervensystem. Es ist geradezu erstaunlich, wie er die trostlosen Aufenthalte in den menschenunwürdigen Internierungslagern der Franzosen dennoch überstand und immer wieder Hoffnung auf Emigration in die USA schöpfte. Das unwürdige Antichambrieren bei den mit den Deutschen kollaborierenden Behörden um eine Ausreisegenehmigung zerrte zusätzlich an den Nerven. Da nimmt es nicht Wunder, dass Benjamin schließlich in vermeintlich größter Not zum letzten Mittel griff.
Erstaunlich ist nur, dass die Autorin vom Selbstmord Benjamins an der französisch-spanischen Grenze nichts berichtet. Wer davon nichts weiß, muss sich nach der Lektüre der letzten Sätze fragen, wann und woran Benjamin denn gestorben ist. Nimmt sie an, dass ihre Leser sowieso über Benjamins Leben informiert sind, oder wollte sie den „tragisch-menschelnden“ Aspekt des Freitods vermeiden? Doch eine kurze Schilderung kann auch ohne jede falsche Sentimentalität auskommen. So wirkt dieses abrupte Ende ohne (faktischen) Schlusspunkt ein wenig aufgesetzt weil – warum auch immer – beabsichtigt.
Doch dieses sind Petitessen bei einem Werk, dem es auf beeindruckende Weise gelingt, den Zustand der deutschen Intelligenz zwischen 1900 und 1940 mit all seinen philosophischen, literarischen und ideologischen Facetten nicht nur am Beispiel eines herausragenden Intellektuellen eindringlich zu beschreiben, sondern auch die großen Gedankenströme und Glaubensbekenntnisse dahinter offen zu legen. Im besten Benjaminschen Sinne hat sie versucht, die (gesellschaftliche) „Wahrheit“ hinter dem Vordergrund eines so erfüllten wie tragischen Lebens aufzufinden und sie den Lesern nahe zu bringen. Diese müssen sich die Wahrheit jedoch aus dem komplexen Text selbst erarbeiten, denn eine unterhaltsame Biographie finden sie in diesem Buch nicht vor.
Das Buch ist im Herder-Verlag erschienen, umfasst einschließlich umfangreichem Anmerkungsteil und Register 611 Seiten und kostet 40 Euro.
Frank Raudszus
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