In ihrem Roman „Wohin wir gehen“ begibt sich Peggy Mädler auf Spurensuche in zwei Familien. Es geht um Bewegungen, Bewegungen im Raum und in der Zeit, um den Verlust von Heimat und um die Suche nach den eigenen Wurzeln.
Peggy Mädler macht diese Spurensuche fest an zwei Mädchenfreundschaften in zwei Generationen, die von der Kindheit bis ins Erwachsenenalter wichtige Bezugspunkte im Leben dieser Frauen sind.
Dabei geht es um Brüche in den Lebensgeschichten und um Neuanfänge, um Phasen der Entfremdung und um Wiederbegegnungen.
In den Wirren des 20. Jahrhunderts – 1. Weltkrieg, Zusammenbruch der Donaumonarchie und Neuordnung in Europa, Verfolgungen der Kommunisten durch die Nationalsozialisten, Krieg, Zerstörung und Vertreibung, Teilung Deutschlands, Neuanfang in der jungen DDR – sind alle Beziehungen unsicher. Traditionen, Erinnerungen, Orte der Kindheit gehen verloren. Für die Überlebenden gilt es, sich in neuen Umgebungen und neuen gesellschaftlichen Bedingungen, in neuen Partnerschaften zu orientieren und wieder Halt zu finden.
Im Mittelpunkt steht die Freundschaft von Rosa und Almut, geboren1930 bzw. 1932 in Tschechien. Rosa ist das Kind der deutschstämmigen Eltern Ida und Hans, die Kommunisten sind. Almut ist die Tochter von Martha und Karl, sie Deutsche, er Tscheche. Hans fällt 1943 in Stalingrad, Karl erliegt 1945 einem Schlaganfall. Almuts Mutter, die nach dem Tod ihres ersten Kindes depressiv wird, bringt sich um, als Almut erst 14 ist. Ida, die Kommunistin, muss als Deutsche 1945 die Tschechoslowakei verlassen. Sie nimmt Almut als Mündel mit. Sie kommt als Vertriebene in einem Dorf an der mecklenburgischen Seenplatte unter.
Ida ist als überzeugte Kommunistin ganz dem Aufbau der neuen sozialistischen Gesellschaft verpflichtet. Die beiden jungen Mädchen sollen in diesem Geiste aufwachsen. Es zeigt sich aber schon früh, dass Idas Tochter Rosa sich mit den Einschränkungen ihrer individuellen Freiheit nicht abfinden kann. Zwar wird sie wie Almut Lehrerin, verlässt aber noch vor dem Mauerbau die DDR, mit drastischen Folgen für ihre Mutter und Almut.
Der Roman verfolgt die weiteren sehr unterschiedlichen Lebenswege der beiden. Almut bleibt in der DDR, findet nach Jahren der „Umerziehung“ wieder eine Anstellung als Lehrerin. Sie heiratet spät den Kollegen Hans, mit dem sie noch ein Kind hat: Eliska, genannt Elli. Inzwischen lebt sie mit ihrer kleinen Familie im sächsischen Pirna.
Rosa hingegen führt ein unstetes Leben im Westen. Ihr Wunsch nach einer Schauspielerkarriere zerschlägt sich, aber mit Hilfe ihres nicht unbetuchten Großonkels kann sie ein durchaus gutes Leben führen. Nach dem Tod des Onkels zieht sie nach Rom.
Jahrelang sehen sich die Freundinnen nicht. Rosa traut sich nicht, in die DDR einzureisen, und Almut erhält keine Reisegenehmigung ins kapitalistische Ausland. So besteht ihre Beziehung jahrelang auf sehr reduziertem Niveau, dennoch ist die alte Vertrautheit sofort wieder da, als sie sich auf der Beerdigung von Rosas Mutter Ida wiedersehen. Zu stark wirkt der gemeinsame Erfahrungsschatz aus Kindheit und Jugend auf ihre Lebensgeschichten.
Ähnlich wie Rosa und Almuts haben auch Almuts Tochter Elli und ihre Freundin Kristina eine enge, ihr Leben prägende Beziehung. Als Ende der 70er Jahre Geborene haben auch sie in ihrer Lebensgeschichte einen Bruch zu verkraften, den Fall der Mauer und den Zusammenbruch der DDR und der Werte, mit denen sie aufgewachsen sind. Beide zieht es nach Berlin, wo sie sich im Studium – Elli als Ausstatterin, Kristina als Dramaturgin – kennenlernen. Die gemeinsame Arbeit, der Ideenaustausch und die gegenseitige Unterstützung schweißen sie zusammen.Und doch werden sie ganz unterschiedliche Lebensmodelle verfolgen.
Kristina lebt mit ihrer Tochter Ada, von deren Vater sie sich schließlich freundschaftlich trennt, in Berlin. Sie kümmert sich um Ellis Mutter Almut und versucht Mutterrolle und den Beruf als selbstständige Dramaturgin miteinander zu verbinden und Stabilität in ihr Leben zu bringen.
Elli dagegen, unstet wie seinerzeit Almuts Freundin Rosa, treibt es in der Welt herum. Beruflich durchaus erfolgreich, scheint sie lange nicht zur Ruhe zu kommen, bis sie in Basel mit Ende 30 etwas sesshaft wird. Sie findet einem dauerhaften Partner, der latente Kinderwunsch will sich jedoch nicht erfüllen.
Auch diese Frauen erfahren nach jahrelanger Beziehung auf Sparflamme die Intensität ihrer jahrelangen Freundschaft wieder, als sie gemeinsam Almut auf dem Sterbebett betreuen und gemeinsam deren Nachlass auflösen. Elli kann sich sogar vorstellen, nach Berlin zurückzukehren. Sie kehrt dann aber doch zu ihrem Partner nach Basel zurück.
Was nun macht dieses Roman so eindringlich und lesenswert?
Da ist zunächst die Aufhebung der Chronologie. Wir erfahren die Lebensgeschichten aus der Erinnerung und aus unterschiedlichen Perspektiven. Almut, die inzwischen in einem Apartment in einer Wohnanlage in Berlin lebt, lässt immer wieder unterschiedliche Lebensphasen vor ihrem inneren Augen aufblitzen. Das sind bisweilen ganz intensive Bilder aus gemeinsamen Erlebnissen mit Rosa, die sich mit starken sinnlichen Eindrücken verbinden. Rosa lernen wir im Wesentlichen aus ihrer Perspektive kennen.
Den Aufbau des Sozialismus in der DDR lässt Peggy Mädler mit Idas Erinnerungen, ihren Idealen und Hoffnungen lebendig werden. Idas Weltbild erhält erst dann einen Kratzer, als ihre Parteikarriere durch die Flucht ihrer Tochter beendet wird. Ida ist ein Beispiel für eine Frau, die sich auch durch Verluste nicht unterkriegen lässt, ihren politischen Überzeugungen treu bleibt. Sie bleibt stets bemüht, optimistisch in die Zukunft zu blicken
Pegg Mädler erweitert die historische Dimension mit dem Blick auf die Großeltern-Generation. Almuts Eltern erleben nach 1918 durch die nationalistische Wende in der neuen Republik Tschechoslowakei einen Bruch in ihrer Lebensgeschichte, der ihre Orientierung und nationale Identität in Frage stellt. Als Antwort auf den tschechischen Nationalismus werden deutschtümelnde Vereine gebildet, was den gesellschaftlichen Riss beschleunigt.
Elli und Kristina ihrerseits machen sich als Erwachsene auf in Almuts Heimat, um all die Orte zu sehen und selbst zu erfahren, die sie nur aus Almuts Erzählungen kennen. Auch für sie geht es um die Frage nach den Wurzeln und der eigenen Identität.
So verbindet der Roman Geschichte mit den zugehörigen Räumen, verweist auf den Wandel dieser Räume mit den historischen Veränderungen und verweist auf die Narben, die der Wandel bei den betroffenen Menschen hinterlässt.
Die für die Figuren des Romans wichtigen Orte werden mit einer Art Lexikonartikel vorgestellt, bevor erzählt wird, wann diese Orte für wen wichtig waren.
Berlin nimmt dabei eine Sonderstellung ein. Es gibt drei Einträge, die die Stadt zum Modell für Wandel werden lassen: Berlin im 19. Jahrhundert, das sich aus einer Ansammlung von Dörfern zu einer modernen Industriestadt entwickelt; Berlin um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, wo Künstler wie politisch Engagierte auf den Durchbruch zum Erfolg hoffen; Berlin im 21. Jahrhundert mit funktionalen Neubau-Quartieren, die Behausungen für viele für viel Geld bieten, aber wenig zu Hause schaffen.
Insgesamt gibt dieser Roman einen Einblick in Familien, die mehrfach von den politischen Wirren, Schrecken und Wandlungen im 20. Jahrhundert betroffen sind. Das alles geschieht mit großer Sensibilität und Einfühlungskraft in das je individuelle Erleben der verschiedenen Figuren- Das geschieht in einer unaufgeregten, klaren Sprache, die nicht mehr scheinen will, als sie ist. Peggy Mädler sensibilisiert einmal mehr für das Thema Flucht, Verzweiflung und Hoffnung auf Neubeginn.
Ein beeindruckendes und höchst lesenswertes Buch.
Das Buch ist im Galiani-Verlag erschienen, hat 219 Seiten und kostet 20 Euro.
Elke Trost
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