Jan Assmann: „Achsenzeit“

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Es gehört zum europäischen Bildungskanon, dass etwa um die Mitte des ersten Jahrtausends vor unserer Zeitrechnung ein Umbruch in der geistigen und spirituellen Entwicklung der maßgeblichen Kulturen erfolgte. Dabei spielten die frühen griechischen Philosophen vor allem im logischen, die israelitischen Propheten im spirituellen Bereich eine wesentliche Rolle. Vor dieser Zeit hatte der Mythos das Leben und Denken der Menschen beherrscht, der sich in geradezu archetypischer Weise in Homers „Ilias“ und „Odyssee“ niederschlägt.

In den mythisch orientierten Gesellschaften bildeten Natur, Mensch und höhere Instanzen – „Götter“ – ein Kontinuum ohne scharfe Trennung, wie man an den allzu menschlichen Schwächen der griechischen Götterwelt und ihren jeweiligen Intermezzi im Reich der Menschen erkennen kann. Innerhalb einer kurzen Zeit beendete im religiösen Bereich der Monotheismus diesen Zustand und schuf ein von der menschlichen Welt scharf getrenntes göttliches Wesen, das nicht nur über Allmacht verfügte, sondern dem sich der Mensch auch nur über den Transzendenz-Begriff nähern konnte. Im intellektuellen Bereich wich der Mythos einerseits der Philosophie, der dem Wesen der Welt durch Logik auf die Spur zu kommen suchte, andererseits der Naturwissenschaft, für die Pythagoras und zweihundert Jahre später Aristoteles als Beispiel dienen mögen.

In Europa wurde dieser Umbruch jedoch lange durch einen viel stärkeren verdeckt und ersetzt, nämlich das Christentum, das sich damit selbst als „Achsenzeit“ definierte. So dauerte es bis zur Aufklärung und darüber hinaus, ehe sich unabhängige Denker mit dieser Zeit neu beschäftigten und dabei weiter gehende Entdeckungen machten.

Der Heidelberger Professor für Ägyptologie Jan Assmann hat in dem vorliegenden Buch die Entwicklung dieser Entdeckungen akribisch und umfassend abgebildet. Dabei geht es ihm nicht darum, eigene Theorien zu entwickeln, sondern die Entstehung und Weiterentwicklung des Begriffs „Achsenzeit“ analytisch aufzuarbeiten.

Der Philosoph Karl Jaspers hat für den Zeitraum zwischen 800 und 200 v. Chr. den Begriff „Achsenzeit“ geprägt, womit er ausdrücken wollte, dass sich das Denken und Handeln der Menschheit in dieser Zeit um eine bestimmte geistige „Achse“ drehten, hier also um einen konsistenten Gottesbegriff und die Stellung des Menschen in der Welt. Doch die besondere Bedeutung dieses Begriffs liegt nicht in der oben beschriebenen griechisch-israelischen Zeitenwende, sondern in einem weltweiten Phänomen.

Bereits Ende des 18. Jahrhunderts bemerkten die beiden Franzosen Abraham-Hyacinthe Anquetil-Duperron und Jean-Pierre Abel Rémusat, dass sich in den selben Jahrhunderten auch in Asien bedeutende geistig-spirituelle Aktivitäten entwickelten. Konfuzius und Lao-Tse gehören ebenso dazu wie die indischen Upaschinaden und Buddha. Ebenso wie ihre europäischen „Zeitgenossen“ dachten sie unter Aufgabe eventueller mythischer Vorstellungen intensiv über das Wesen und den Sinn des Lebens und der Welt nach. Die beiden Franzosen unterstellten in einer gewissen aufklärerischen „Naivität“ einen physischen Kontakt der Kulturen, wobei sich nur die Frage stellte, ob die Asiaten europäische Anregungen aufgenommen hatten oder umgekehrt. Als geborene „Eurozentristen“ gingen sie erst einmal von einer europäischen Führerschaft aus. Im Wesentlichen beschränkten sie sich jedoch beide auf die Beschreibung der Parallelitäten, was angesichts der Neuheit dieser Entdeckung nachvollziehbar ist.

Für Hegel waren diese parallelen Entwicklungen ein weiterer Beweis für das Wirken des „Weltgeistes“, so dass auch er sich auf diese Zeit einließ. Danach folgten weitere, heute teilweise vergessene Denker, die sich dem Phänomen des weltweit synchronen geistigen Umbruchs widmeten: Eduard Maximilian Röth entwickelte Mitte des 19. Jahrhunderts einen systematischen Rahmen für die Strukturen des alten und neuen Denkens. Der geschlossenen, kugelförmigen Weltbild der Vorzeit stellte er das moderne offene Universum entgegen, und der in der alten Welt „von innen“ wirkende Gott wird bei ihm zur äußeren, „transzendenten“ Institution. Sein Zeitgenosse Ernst von Lasauxl verfolgte einen ähnlichen Ansatz wie Röth, sah hinter diesen geistigen Kräften jedoch eine universale Vorsehung wirken.

In seiner Anthologie der „Achsenzeit“ führt Assman noch weitere Historiker und Philosophen auf, die sich dem Phänomen der „Achsenzeit“ intensiv gewidmet haben. Neben Victor von Strauß und Torney und John Stuart Stuart-Glennie gehört vor allem Alfred Weber, der Bruder Max Webers, dazu. Der heute nur noch Kennern bekannte Alfred Weber war wie sein Bruder Soziologe und Ökonom, überlebte seinen Bruder um fast vierzig Jahre und blieb dennoch – wohl zu Unrecht – stets in dessen Schatten. Assmann holt ihn aus diesem Schatten der Wissenschaftsgeschichte hervor und präsentiert seine Sicht der „Achsenzeit“. Laut Weber haben die „Reitervölker“ eine große Rolle gespielt, die mit der Domestizierung des Pferdes ein neues Transportmittel für die Überwindung größerer Entfernung geschaffen hätten. Damit seien fernöstliches Gedankengut nach Europa gekommen.

Zentrale Bedeutung kommt in Assmanns Buch jedoch Karl Jaspers zu. Nicht nur hat er den Begriff der „Achsenzeit“ geprägt, sondern er hat sie auch zu besonderer welt- und geistesgeschichtlichen Bedeutung erhoben. Während seine Vorgänger die Parallelitäten entweder als Zufälle oder durch Einfluss der asiatischen auf die europäische Kultur bzw. umgekehrt gedeutet haben, sieht Jaspers darin quasi einen Akt einer höheren, überweltlichen Instanz. Das war natürlich nicht im Sinne der anekdotischen Wunder Jesu´ gemeint, sondern sollte das vorherbestimmte Wesen der Welt widerspiegeln. Auch sah Jaspers die „Achsenzeit“ nicht als eine evolutionäre Stufe wie anderer seiner Vorgänger, sondern als einmaligen Umbruch. Erst die Achsenzeit und der mit ihr aufkommende Monotheismus machten für den gläubigen Christen Jaspers die Menschheit reif für das Christentum, das sich damit als menschliche Endstufe quasi zwangsläufig aus der Achsenzeit ergab.

Assmann geht in dem umfangreichsten Kapitel detailliert auf Jaspers´ Vorstellungen ein, vor allem die Bedeutung der Achsenzeit für die Moderne, und stellt diesen Betrachtungen noch erhellende und kritische Kommentare verschiedener bedeutender Zeitgenossen wie Lewis Mumford, Ian Morris und vor allem Jürgen Habermas zur Seite. Diese drei ergänzen Jaspers´ Thesen, erweitern sie oder äußern sogar gegenteilige Ansichten. Das ergibt sich natürlich aus dem Gegenstand selbst, da die „Achsenzeit“ wegen der großen zeitlichen Distanz zur Spekulation geradezu einlädt und schlagkräftige Beweise kaum zu beschaffen sind.

Nach Jaspers treten noch zwei wichtige Personen auf: Eric Voegelin und Shmuel Eisenstadt. Der hochbegabte Voegelin studierte Rechtswissenschaften, Ökonomie und Philosophie gleichzeitig und wurde bereits mit 21 Jahren promoviert. Er lehnte jegliche „wissenschaftliche“ Gesellschafts- und Kulturtheorie à la Marx oder Hegel ab und sah im Christentum die einzige Grundlage für eine sinnvolle menschliche Existenz. Laut aussagen kritischer Zeitgenossen hatte das Christentum für ihn jedoch eher eine staatstragende denn eine spirituelle Funktion.

Mit Shmuel Eisenstadt (1923-2010) kam ein deutlich kulturanalytischer Charakter in die Überlegungen zur Achsenzeit. Die Transzendenz ist in diesen Betrachtungen nicht mehr unverrückbarer Eckpfeiler der Weltanschauung, sondern ein beobachtbares und damit „vermessbares“ Objekt der Erkenntnis. Der Wissenschaftler beugt vor der Transzendenz nicht mehr demütig die Knie, sondern versucht, ihren Charakter zu ermitteln.

Den Abschluss dieses Reigens großer Kommentatoren des Achsenzeit-Phänomens bildet Robert Bellah, der die Achsenzeit aus der Perspektive der religiösen Evolution betrachtet.

Jan Assmann hat die teilweise widerstreitenden Theorien und Hypothesen zur Achsenzeit mit großer Detailfreude und ausgeprägter wissenschaftlicher Neutralität zu einem beeindruckenden Gesamtbild zusammengefügt. Nur sehr selten und dann pointiert führt er eigene Gegenargumente ein, z. B. wenn er (fast) allen Achsenzeit-Theoretikern vorhält, sie hätten die alt-ägyptische Entwicklung mit ihrem frühen Monotheismus kaum oder gar nicht berücksichtigt. Doch entwickelt er daraus keine eigene Gegentheorie, sondern weist nur auf die Lücke hin. Generell geht es ihm darum, die unterschiedlichen Denkansätze zu analysieren und einander gegenüber zu stellen, um daraus wiederum Erkenntnisse zu gewinnen.

Das Buch richtet sich an Kenner der Philosophie und der Geschichte und ist nicht als „Publikumswerk“ gemeint. Trotz seiner verständlichen Schreibweise und der übersichtlichen Struktur des Buches setzt Assmann in den detaillierten Ausführungen zu den einzelnen Themenkreisen einiges Fachwissen voraus, das nicht immer mit der allgemeinen Hochschulreife vorliegt. Die Lektüre dieses Buches ist also durchaus mit Arbeit verbunden. Diese zu investieren lohnt sich jedoch in jedem Fall.

Das Buch ist im Verlag C.H.Beck erschienen, umfasst einschließlich Anmerkungen und Register 351 Seiten und kostet 26,95 Euro.

Frank Raudszus

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