Heinrich von Kleists Novelle „Michael Kohlhaas“ bietet eigentlich eine hervorragende Grundlage für eine Bühnenbearbeitung. Die Erzählung ist auf einem klaren Konflikt aufgebaut, der sich nach einer knappen Einleitung zu stufenförmig wachsender Dramatik entwickelt und in einer – lakonisch vorgebrachten – Tragödie endet.
Kohlhaas wird von einem Adligen auf übelste Weise um seine besten Pferde gebracht, und seine Klagen vor verschiedenen gerichtlichen und kurfürstlichen Instanzen werden dank entsprechender Beziehungen des adligen Übeltäters niedergeschlagen. Darauf wird Kohlhaas zum Amokläufer und brennt ganze Orte nieder, ist jedoch bereit, sich im Falle der ordnungsgemäßen Bestrafung seines Widersachers den Behörden zu stellen. Das ihm zugesagte freie Geleit zu Gesprächen mit höchsten Stellen wird jedoch dazu missbraucht, ihn festzunehmen und hinzurichten.
Diese Szenerie eignet sich vorbildhaft für eine dichte Inszenierung, die sowohl die menschliche und rechtliche Situation der Hauptperson als auch das Thema der Selbstjustiz durch dramaturgische und darstellerische Intensität auf den Punkt bringen kann. Das Landestheater Detmold hat dies in der Inszenierung von Konstanze Kappenstein auf überzeugende Weise geschafft.
Dominic Friedel hat sich für seine Inszenierung im Staatstheater Darmstadt etwas Besonderes einfallen lassen – er lässt das Stück über weite Strecken von den Mitgliedern des Kinderchors spielen. Als personelles Gerüst stehen drei Schauspieler des Ensembles zur Verfügung (Judith Niederkofler, Victor Tahal und Béla Milan Uhrlau), die Auszüge des Novellentextes vortragen oder in wechselnden Rollen zusammen mit den Kindern auftreten. Dabei übernehmen sie teilweise eine Doppelfunktion, indem sie einerseits die jeweilige Rolle spielen, andererseits quasi als Regisseure des Kinderensembles auftreten. Fast wirkt dieses Doppelspiel wie eine Probe, bei der Spieler kurzfristig zwischen der Fiktion und der Meta-Ebene der Regie umschalten. Was dort jedoch Teil der Probenarbeit ist, der bei einer Aufführung üblicherweise entfällt, wird hier zum festen Bestandteil der Inszenierung. Solche Ebenenwechsel mögen in – vor allem satirischen – Komödien durchaus einen gewissen Witz versprühen, in der auf knappe Dramatik getrimmten Novelle von Kleist sind sie jedoch fehl am Platz und wirken eher als Regie-Selbstzweck.
Der Haupteinwand gegen diese Inszenierung gilt jedoch dem Kinderensemble. Mit Halbwüchsigen zwischen sechszehn und achtzehn Jahren könnte das noch halbwegs funktionieren, jedoch mit schauspielerisch nicht professionell ausgebildeten Kindern ohne Lebenserfahrung und fehlendem Verständnis für die existenziellen Probleme dieser Novelle weniger. Wenn die Kinder ihre Texte aufsagen, wirkt das im besten Falle „nett“, wie bei einer Aufführung des Schultheaters für die unteren Jahrgänge, im schlechteren jedoch lächerlich, weil die kindliche Attitüde der dramatischen Situation nicht gerecht werden kann. Das hat nichts mit der Leistung der Kinder zu tun, die im Rahmen des altersmäßig Möglichen ausgesprochen gut sind, sondern eben mit Ausdrucksmöglichkeiten von Kindern und – nicht zu unterschätzen! – den Assoziationen, die Kinder auf der Bühne bei den Zuschauern auslösen.
Dazu kommt ein weiterer Regieeinfall, der sich schon durch seine Länge ein Rohrkrepierer erweist: zu Beginn lässt Friedel Victor Tahal und Béla Milan Uhrlau als Pferde mit Sätteln unter der Fuchtel eines kleinen Jungen auf allen Vieren über die Bühne krabbeln. Für Kenner der Novelle erschließt sich dieses Bild schnell, für alle anderen Besucher nicht, da erst später von den misshandelten Pferden berichtet wird. Darüber hinaus begeht Friedel den immergleichen Fehler vieler Regisseure, einen vermeintlich originellen Einfall auszuwalzen. Geschlagene zehn Minuten lang wiederholen sich die einzelnen Details dieser Szene – Schlagen der Pferde, Reiten eines großen Kreises, Wechsel des Pferdes – ohne eine Weiterentwicklung oder gar Pointe. Angesichts der Gesamtdauer der Inszenierung von knapp eineinhalb Stunden ist das eindeutig zu viel.
Wenn gegen Mitte der Aufführung die Kinder verschwinden und die Bühne den erwachsenen Darstellern überlassen, führt das jedoch nicht zu szenischer Verdichtung. Weiterhin tragen die Darsteller überwiegend den Originaltext mit unterschiedlicher Betonung und Emphase vor, ohne jedoch damit eine dramatische Verdichtung der Bühnenhandlung zu bewirken. Die Aufführung wirkt eher wie eine szenische Lesung denn wie ein Theaterstück.
Das Bühnenbild besteht aus drei kahlen Bäumen und einem Holzverschlag in Containergröße im Hintergrund. Die Bäume erfüllen keinen sichtbaren metaphorischen Zweck, sondern sind einfach nur – Bäume. Der Holzverschlag erhält erst zum Schluss eine Funktion, wenn darin Kohlhaas von der endgültigen Ablehnung seiner Klagen und seiner Festnahme erfährt. Den Part der staatlichen Autorität spielt Karl Müller von dem „Bürger*innen-Ensemble“ des Staatstheaters. Man hatte diesen reifen Senioren bewusst ausgewählt, um aus dieser Inszenierung ein „3-Generationen-Stück“ zu machen. Bezeichnenderweise hatten auch hier wieder „stück-externe“ Argumente eine Rolle gespielt, obwohl damit Müllers sprachliche Leistung in keiner Weise geschmälert werden soll.
Darüber hinaus spielt diese Inszenierung viel mit Hebungen und Senkungen der einzelnen Bühnenteile, die jedoch keinem erkennbaren szenischen Grund als dem Selbstzweck der Bewegung zu gehorchen scheinen. Dieses Auf und Ab lenkt eher ab von der sowieso schon knappen szenischen Handlung dieses Vortragsstückes, als dass es sie betonen würde.
Man kann dem Regisseur zugute halten, dass er die Jugend gezielt in die Theaterproduktion einbinden und dabei bewusst die professionellen Voraussetzungen dehnen wollte, frei nach dem Motto „Bürger- statt Elitentheater“. Das kann man machen, aber dann in Stücken, die auf Professionalität der Darstellung zum szenischen Überleben nicht angewiesen sind. Kleists „Michael Kohlhaas“ gehört nicht dazu und ist trotz punktuell guter darstellerischer Leistungen der drei „Profis“ hier den Bühnentod gestorben.
Frank Raudszus
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