Bei diesem Buch bleibt der Leser bis zum Schluss im Zweifel darüber, ob es sich dabei um abgründige Ironie angesichts einer völlig in Konventionen erstarrten Gesellschaft oder um echte Erschütterung ob des tragischen Endes einer Ehe handelt. Das liegt nicht zuletzt an der Struktur dieses Buches, die nicht eine spannende chronologische Darstellung der Ereignisse sondern eine fragmentarische Rückschau eines der Beteiligten enthält. Die Rückblendentechnik ist jedoch ebenfalls nicht systematisch gestaltet, sondern spiegelt die spontane Erinnerung eines Mannes, wie dieser sie einem Zuhörer gegenüber im Gespräch äußern würde. Das ist durchaus keine literaturtechnische Schwäche des Autors, sondern ein bewusstes Stilmittel, mit dem der Autor den Fluss der Ereignisse auflöst in eine Reihe von Momenten, die sich nicht zwangsläufig auseinander entwickeln müssen. Die scheinbar beliebigen und spontanen Rückblenden schaffen dabei eine ambivalente Atmosphäre des Möglichen, der Missverständnisse und – ja! – des Schicksalhaften.
Der Ich-Erzähler, ein zu Beginn der Handlung um 1900 noch junger Millionär aus den USA, heiratet eine junge Frau, deren einziger Wunsch ist, einst als Lady auf einem großen englischen Landsitz zu residieren. Sie selbst entstammt nämlich einer englischen Familie, die vor Jahrhunderten nach Amerika auswanderte. Auf der Hochzeitsreise nach Europa zieht sie sich angeblich ein Herzleiden zu, das äußerste Schonung verlangt. Von diesem Augenblick an ist der Ich-Erzähler nur noch eine Art besserer Krankenpfleger, und man darf annehmen, dass die Ehe nie vollzogen wurde. Doch das scheint dem Ehemann in seiner „Noblesse“ und Fürsorglichkeit gar nicht zu stören. So wie in dem gesamten Buch die Sexualität nur in entferntesten Andeutungen angesprochen wird, scheint auch der Ich-Erzähler in dieser Hinsicht keinerlei Bedürfnisse zu verspüren. Das kann man entweder als Naivität bis zur Weltfremdheit hin deuten oder als die ironische Grundlage des Buches: Der Ich-Erzähler ist sozusagen der Autor, der sich von vornherein auf höflichste Weise von Personen und Problemen distanziert.
Im Mittelpunkt steht der englische Hauptmann und Gutsherr Edward, der nach langer Zeit in Indien mit seiner Frau Leonora nach England zurückgekehrt ist. Da auch er unter Herzproblemen leidet, treffen sich die beiden Ehepaare etwa um 1904 in einer Sanatorium in Bad Nauheim. Man verbringt die Tage gemeinsam buchstäblich mit Nichtstun und Gesprächen. Die Situation erinnert ein wenig an Goethes „Wahlverwandschaften“, doch der Autor dürfte weniger an diese Vorlage gedacht haben, denn hohe Gedankenflüge gehören nicht zu dem in gesellschaftlichen Konventionen erstarrten Umgang der beiden Ehepaare.
Doch hinter dem äußerlich tadellosen Verhalten – der Begriff der „ordentlichen Leute“ spielt eine große Rolle – spielen sich seelische Dramen ab. Edward ist trotz aller Konventionen ein hoch empfindsamer Mensch, der seiner gesellschaftlicher Rolle gerecht werden und seiner Umwelt dienen will. Er zeigt sich seinen Pächtern und Verwandten gegenüber großzügig bis zur Verschwendung und denkt dabei nicht an die begrenzte wirtschaftliche Tragfähigkeit seiner Besitzungen. Leonora dagegen sieht es als Katholikin aus kinderreichem aber eher bescheidenem Elternhaus als ihre Pflicht(!), ihrem Mann eine gute Frau zu sein und den Besitz zusammenzuhalten. Die – von den Eltern arrangierte – Ehe der beiden besteht von Anfang an nur aus hochfliegenden Pflichten und gegenseitiger Achtung, in der Erotik oder Sexualität „an sich“ keinen Platz haben, ja nicht einmal thematisiert werden. So ergibt es sich zwangsläufig, dass Edward verschiedenen Frauen verfällt, wobei er die Erotik vor sich selber nur als leidenschaftliche Liebe rechtfertigen kann und damit zum „alles oder nichts“ hochstilisiert. Als ihn die erste Geliebte finanziell erpresst und dann fallen lässt, ist das für ihn natürlich eine existenzielle Katastrophe. Nur beiläufig erwähnt der Ich-Erzähler, der alles erst viel später erfahren haben will, das außereheliche Eskapaden in den Kreisen des Hauptmanns den sozialen Tod bedeuten und daher nicht ans Licht der Öffentlichkeit geraten dürfen. Freies Feld für Erpressungen innerhalb und außerhalb der Ehe.
Als Florence, die „herzkranke“ Ehefrau des Ich-Erzählers, erfährt, dass die Vorfahren ihrer Familie einst ausgerechnet Edwards Landbesitz verließen, ist ihr einziges Ziel, ihn für sich zu gewinnen, um dann das Leben einer Lady zu führen. Edward kann sich ihrer Avancen nicht erwehren und beginnt ein Verhältnis mit ihr. Sie bekniet Leonora, ihn freizugeben, diese lehnt das aus Statusgründen und wegen ihrer Religion strikt ab und macht wiederum Forence klar, dass eine geschiedene Frau – Forence! – in der Gesellschaft als „Lady“ nicht akzeptiert würde. Edward stürzt in ein tiefes seelisch-moralisches Loch, da er sich seiner Frau gegenüber schuldig und ihr moralisch unterlegen fühlt. Er bewundert und vergöttert Leonora, ist aber nicht in der Lage, eine normale, sprich: erotische Beziehung zu ihr aufzubauen.
Edward durchläuft bezüglich der Frauen einen deutlichen Entwicklungsprozess. Von der so feurigen wie eiskalten Mätresse wechselt er zu der herzensguten Ehefrau eines Regimentskameraden, dann zu der Frau eines Freundes -Florence -, und schließlich entdeckt ein junges, noch „unschuldiges“ Mädchen ihre bewundernde Liebe für ihn. Dieser so reinen wie naiven – und seiner Meinung nach ungerechtfertigten – Liebe hat er, der seine Frau und seine Freunde betrogen hat, nichts entgegenzusetzen, und schickt das Mädchen weit fort, um im Stillen von der fernen Liebe zu zehren. Doch wie Florence, deren Schicksal ausgerechnet dieses Mädchen wurde, scheitert er und zieht die Konsequenzen. Der Rest ist Schweigen – möchte man zitieren, wäre da nicht der gehörnte Ehemann und Frühwitwer, der nach Jahren die Stücke des Puzzles zusammenfügt.
An Thomas Mann erinnert dieser Roman in mehrfacher Hinsicht: die Entstehungszeit – 1925 – ist dabei zwar die trivialste Übereinstimmung, reflektiert jedoch die Vorkriegszeit in ähnlicher Weise wie der „Zauberberg“. Die Atmosphäre im Bad Nauheimer Sanatorium ähnelt der seines Pendants in Davos, und der Ich-Erzähler erinnert in seiner Distanz zum Leben an Hans Castorp. Auch der Stil gleicht dem Thomas Manns in seinen in langen, reflexionsreichen Sätzen formulierten Beobachtungen und in seiner latenten Ironie, wenn auch beide Stilmomente nicht so ausgeprägt sind wie bei dem deutschen Autor.
Trägt die Ironie des reichen Frühwitwers anfangs noch bittere Züge, wendet sie sich mit zunehmender Erkenntnis der jeweiligen psychischen Situation der anderen Protagonisten in eine verzeihende Milde. Das „nihil humani mihi alienum“ schimmert am Ende, wenn er das Ende der Tragödie beschreibt, durch die Zeilen hindurch und lässt eine Welt von schuldlosen Unglücklichen zurück. Einfach die allertraurigste Geschichte.
Das Buch ist im Diogenes-Verlag erschienen, umfasst 306 Seiten und kostet 29 Euro.
Frank Raudszus
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