Klaus Cäsar Zehrer schildert in seinem Roman „Das Genie“ die Zeit von 1890 bis in das frühe 20. Jahrhunderts in den USA. Der aus der Ukraine ausgewanderte Boris Sidis hat es mit viel Ehrgeiz und Fleiß zu einem renommierten Wissenschaftler gebracht. Mit seinem Sohn William, der 1898 zur Welt kommt, wagt er ein völlig neues Erziehungskonzept, das tatsächlich dazu führt, aus einem Kind schon sehr frühzeitig ein außergewöhnlich intelligentes, hoch gebildetes und an allem interessiertes Genie zu machen.
Schon das Baby wird intensiv gefördert, so dass es sehr früh zu sprechen und zu denken lernt. Bereits mit acht Jahren schließt der kleine William erfolgreich die High School ab. In Harvard wird er als Wunderkind gehandelt. Das ist beeindruckend und überzeugend zu lesen. Doch je älter William wird, desto wunderlicher wird er, weil er in kein Schema passt. Sein Wissen und seine Forschungsergebnisse sind grandios, doch mangelt es ihm an sozialen Kontakten. Das anstrengende Miteinander der Menschen um ihn herum interessiert ihn einfach nicht, da seine Gedanken sich mit ganz anderen Themen beschäftigen. Er will forschen, sich der Astrophysik widmen und dort ganz nach vorne kommen.
Als William schließlich gegen Ende des Ersten Weltkrieges zur Army eingezogen werden soll, taucht er ab und widmet sich als Pazifist kurzfristig der Religion. Doch dann ist der Erste Weltkrieg zu Ende, und mehr als hunderttausend amerikanische Soldaten haben den Dienst für ihr Land mit dem Leben bezahlt. Auch die spanische Grippe, die nocfünf bis sechs mal mehr Opfer gefordert hat, ist überstanden. Eigentlich könnte William jetzt durchstarten, doch sein Leben verläuft nicht geradlinig weiter in der Richtung des Erfolgs.
Zehrers Roman schildert einerseits die Familiengeschichte der Sidis und erzählt andererseits viel über das politische und soziale Gefüge der USA in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Im Mittelpunkt steht das leben eines hoch begabten Außenseiters, der auch im „freien“ Amerika nicht so leben kann, wie es ihm gemäß wäre.
Der Roman liest sich fesselnd und wirft viele Fragen über die „richtige“ Kindererziehung und das soziale Gefüge der USA im frühen 20. Jahrhundert auf. Explizite Verweise auf die heutige Situation erübrigen sich dabei.
Das Buch „Das Genie“ ist im Diogenes-Verlag erschienen, umfasst 649 Seiten und kostet 25 Euro.
Barbara Raudszus
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