Die große Kunst des Tanztheaters – und des herkömmlichen Balletts – besteht darin, Geschichten zu erzählen, ohne dabei die menschliche Stimme zu verwenden. Allein die Körpersprache soll sowohl Handlungselemente als auch – und vor allem – die Gefühle der Personen überzeugend zum Ausdruck bringen. Je handlungsreicher ein Stück ist, desto einfacher wird es, je mehr die Gefühle und Gedanken überwiegen, desto schwieriger ist diese Aufgabe. Tim Plegge, Der Leiter des Hessischen Staatsballetts, hat sich für seine neue Choreografie mit Ferenc Molnars Theaterstück „Liliom“ eine Vorlage ausgesucht, die zwar einen Handlungsfaden enthält, den Schwerpunkt jedoch auf die Empfindungen der Protagonisten legt. Die Premiere dieser Choreografie am 22. Februar beweist , welche Ausdruckskraft das Tanztheater an den Tag legen kann, wenn sowohl die tänzerischen Leistungen als auch die Ideen bei der Umsetzung stimmen. In diesem Fall entwickelte die Choreografie die Wirkung einer tragischen Oper, und das ohne jeglichen stimmlichen Einsatz.
Der junge Liliom dient im Wiener Prater als Kundenanlocker und ist bei den Frauen wegen seines guten Aussehens beliebt. Seine so angenehme wie nützliche Liebschaft mit seiner Chefin geht zu Bruch, als er sich in das Dienstmädchen Julie verliebt, und seinen Job verliert er auch. Da er Freundin und das sich ankündigende Kind nicht ernähren kann, gerät er in falsche Kreise und misshandelt in seiner Wut sogar Julie.
Als der falsche Freund Ficsur ihn zu einem Überfall auf einen Geldboten überredet, nimmt das Schicksal seinen Lauf. Der Überfall misslingt, und Liliom nimmt sich aus Scham und Verzweiflung das Leben. Im Himmel erhält er jedoch nach Jahren der Bewährung die Chance, für einen Tag auf die Erde zurückzukehren, um eine gute Tat zu tun. Unerkannt geht er auf seine halbwüchsige Tochter zu, um ihr einen Stern zu schenken. Doch als sie ablehnt, verfällt er in sein altes Muster und schlägt sie. Unverrichteter Dinge geht er zurück ins Jenseits.
Tim Plegge legt von Anfang an Wert auf eine assoziationsreiche Gestaltung der Umgebung. Ein Lichterrahmen umrahmt die gesamte Bühne wie in einem Varieté-Theater, und im Hintergrund sieht man ein von Lichtelementen dargestelltes Riesenrad sich langsam drehen. Zu wechselnden Beleuchtungseffekten zeigt das Ensemble des Staatstballetts in der ersten Szene ausgiebig das Leben auf einem großen Jahrmarkt, wobei sogar zwei Auto-Scooter zum Einsatz kommen. Diese ziehen sich als „running gag“ durch die gesamte Aufführung und dienen dem paarweisen oder einzelnen Transport der Darsteller in verschiedenen dramaturgischen Varianten. Plegge abstrahiert in seiner Choreografie nicht von dem Schausteller-Umfeld, sondern verleiht ihm durch Tanz und Beleuchtung authentischen Charakter.
Dabei kommt auch der Humor nicht zu kurz. Über der Anfangsszene schweben auf Hochsitzen zwei Polizisten, die das Treiben von oben betrachten. Erst im Laufe der Aufführung wird klar, dass es sich hier nicht um einfache irdische Prater-Aufpasser handelt, sondern dass sie darüber hinaus auch die Beobachter einer im wahrsten Sinne höheren Instanz darstellen. Doch Plegge nimmt ihnen jeglichen Anschein höheren Kitsches, indem er sie als ein groteskes Pärchen mit ganz eigenen Marotten und durchaus menschlichen Schwächen anlegt. Wie die Scooter wandelt auch dieses Paar als eine Art „running gag“ durch die gesamte Choreografie.
Die Geschichte um Liliom (Daniel Alwell), Julie (Sayaka Kado), Frau Muskat (Margaret Howard) und den Gangster Ficsur (Ramon John) inszeniert Plegge als nachvollziehbaren Handlungsfaden, so dass die Zuschauer die Handlung ohne vorherige Kenntnis verstehen. Die professionelle Attitüde der Muskat kommt ebenso zum Ausdruck wie ihre Eifersucht, und Lilioms Unfähigkeit zu einer strukturierten Lebensweise sowie sein Lebensfrust lassen sich ebenso aus seiner Körpersprache entnehmen. Das gilt auch für Julies leidende Liebe und die eiskalte Verschlagenheit Ficsurs. Die vier Darsteller bringen mit ihrer Körperlichkeit das gesamte emotionale Spektrum ihrer Rollen so überzeugend zum Ausdruck, dass selbst ein Kind die Handlung verstehen würde. Dabei sind vor allem bei Alwell und John die akrobatischen Leistungen hervorzuheben, die die unbeherrschte und zeitweise aggressive Körperlichkeit Lilioms und Ficsurs überzeugend widerspiegeln.
Der Himmel ist für Plegge eine weitere Gelegenheit zu originellen Einfällen, die er intelligent zu nutzen weiß. Das himmlische Service-Personal ist nicht nur uniformiert, sondern besteht ausschließlich aus Frauen. Das lässt einige Schlüsse auf die Verteilung der jenseitigen Gnade auf die Geschlechter bei Plegge zu. Doch diese weiblichen Engel zeigen auch Witz und Temperament. Zu den Anweisungen der mit einer coolen Sonnenbrille ausgestatteten Himmelschefin tanzt die Schar der uniformierten Engelinnen (Gendersprache!) einen rhythmischen Bossa Nova, ehe sich die himmlische Torhüterin dem neuen Ankömmling widmet. Diese humorigen Szenen geraten jedoch nie zum Lacher garantierenden Klamauk, sondern konterkarieren lediglich auf humorige Weise die Klischeevorstellungen über das himmlische Leben, soweit diese überhaupt ernst gemeint sind.
Wenn Liliom dann bei seinem Erdenbesuch an sich selbst gescheitert ist und seine Tochter ihrer Mutter erstaunt von dem gewalttätigen Fremden berichtet, ahnt diese eine höhere Fügung. Und während sie in langsamen Bewegungen diesem Gast nachsinnt, erscheint dieser zusammen mit der Himmelschefin hoch über der Bühne. Ein leiser Hauch von Gnade.
Hervorzuheben ist bei dieser Produktion die Musik, die das Orchester des Staatstheaters unter der Leitung von Michael Nündel beisteuert. Sie besteht aus Werken des 20. Jahrhunderts u.a. von Rachmaninow, Martinú, Schnittke und Schostakowitsch und ist punktgenau auf die jeweilige dramatische oder emotionale Situation zugeschnitten. Beziehungskräche zwischen Liliom und Julie finden dort ebenso ihre Spiegelung wie die kriminellen Aktionen der beiden Männer oder die diversen Eifersuchtsszenen der Muskat. Aber auch die leisen Töne, vor allem in den Szenen der leidenden Julie, finden in der Musik ihren Niederschlag. Die Tänzer können ihren Körperausdruck mit der Musik steigern oder zurückhalten und damit die jeweilige Situation punktgenau interpretieren. Das Orchester intoniert die Musik als eigenständigen künstlerischen Part der Choreografie und nicht nur als Untermalung des Tanzes. Man könnte angesichts dieser musikalischen Präsenz durchaus von einer getanzten Oper sprechen. Während der ersten Hälfte spielt dazu Kai Adomeit die jeweiligen Themen auf dem Flügel am Rande der Bühne und verleiht der Musik damit eine zusätzliche Präsenz.
Das hessische Staatsballett zeigt durchweg hohe tänzerische Leistungen. Das gilt nicht nur für die vier oder fünf Hauptrollen, sondern ebenso für die gesamte Truppe, die – wie ein Opernchor – in wechselnden Konstellationen für das tänzerische Gesamtbild und die atmosphärische Verdichtung der dramatischen Szenen sorgt. Das straffe Tempo von Musik und Choreografie sorgt zusammen mit den originellen tänzerischen Ideen dafür, dass die Spannung bis zum letzten Augenblick auf hohem Niveau bleibt. Vor allem kommt der tragikomische Grundcharakter dieser Vorstadtlegende in vollem Umfang zum Tragen.
Das Premierenpublikum zeigte sich begeistert und geizte nicht mit „Bravo“-Rufen und stehenden Ovationen. Sogar Blumensträuße flogen auf die Bühne!
Frank Raudszus
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