Ibsens 1867 entstandenes dramatisches Gedicht war ursprünglich gar nicht für die Bühne gedacht. Allein die Versform war zu diesem Zeitpunkt bereits ein Hindernis für eine Bühnenkarriere. Dass es dennoch zu einem Repertoirestück wurde, ist wohl seinem „faustischen“ Charakter zu verdanken. Für viele Regisseure ist diese weit ausgreifende Welt-Sinn-Suche zu verlockend für eine Interpretation auf der Bühne, als dass sie es links liegen lassen könnten.
In Darmstadt stand das Stück zum letzten Mal im Jahr 2007 auf dem Spielplan, damals als Dreiteiler mit verteilten Hauptrollen. In der Neuinszenierung von Christoph Mehler verzichtet der Regisseur von vornherein auf einen realistischen Handlungspfad und verlagert das Geschehen in die Peer Gynts Innenwelt, die von Sehnsüchten, Tagträumen und Phantasien angefüllt ist. Die Handlungselemente spiegeln sich sozusagen in Peer Gynt und tragen daher durchweg metaphorische Züge.
Das beginnt bereits mit dem Bühnenbild, das lediglich aus einem bühnenhohen, weißen Vorhang besteht, der sich um die gesamte Bühne zieht. Er dient sowohl zur optischen Abgrenzung von Aktivitäten im Hintergrund als auch zur metaphorischen Darstellung von Naturereignissen wie Eis, Schnee und Sturm und von Segeln eines Schiffes. Darüber hinaus lassen sich die auf dem Bühnenboden ausgebreiteten Enden des Vorhangs mit einiger Phantasie für vielfältige szenische Zwecke nutzen, etwa als Bett oder wärmende Kleidung.
Mehler stellt Ibsens existenzielle Forderung „Sei du selbst“ in den Mittelpunkt seiner Inszenierung. Das zeigt er bereits mit dem ersten Bild auf geradezu plakative Weise. Daniel Scholz, von dem man bis zu diesem Zeitpunkt höchstens aus dem Programmheft weiß, dass er den Peer Gynt spielt, betritt alleine die leere Bühne und schaut – leicht amüsiert? ironisch? – ins Publikum. Das tut er eine gefühlte Ewigkeit, ohne ein Wort zu sagen. Hier ist er ganz er selbst, Daniel Scholz, und nicht eine Figur in einem Stück. Ein erstes Vexierspiel über die eigene Identität, das den Zuschauer irritieren soll und es (wohl) auch schafft.
Erst nach diesen langen Minuten beginnt Scholz, die ersten Verse aus Ibsens Gedicht vorzutragen. Hier spricht nicht die Mutter (Gabriele Drechsel) die ersten Worte („Peer, du lügst!“), sondern sie lässt den Sohn über seine erfundenen Jagderfolge schwadronieren, ehe sie protestiert. Ein weitere, wenn auch kleine, Betonung der Weltsicht Peer Gynts.
Bereits in dieser Szene sitzt der Tod („Der große Krumme“), gespielt von Jörg Zirnstein, am Bühnenrand und betrachtet die Szene zwischen Mutter und Sohn. Das lässt darauf schließen, dass Mehler das Stück von vornherein als rückblickende Erinnerung des alten Peer interpretiert. Insofern sind dessen Prahlereien und Tagträume nicht als Gesellschaftskritik an einer ziellosen und unter Realitätsverlust leidenden Jugend zu verstehen, sondern als selbstkritische und ein wenig ironische Bilanz eines gelebten Lebens, das notwendigerweise aus Irrtümern und falschen Träumen bestand.
Einen ganz wesentlichen Teil nimmt bei Mehler das Thema der Trolle ein. Er inszeniert diese Szenen wie ein reales Erlebnis und lässt der Phantasie bei Kostümen und Masken der Trolle und Masken freie Hand. Auch die Fäkalphantasien werden dabei auf deftige Weise ausgelebt, wobei zarte Publikumsgemüter einiges auszuhalten haben. Doch die ausgedehnte Szene lebt von ihrer Deftigkeit und einem prallen Leben, das den puren Gegensatz zu Peers ödem Leben auf dem verarmten Bauernhof darstellt. Hier pulsiert das Leben, und hier wäre man gerne Kaiser – wäre da nicht die Realität. Ähnlich direkt spielt sich auch die Szene mit dem Brautraub ab, in der Peer allerdings selbst gar nicht auftritt. Erst anschließend, wenn er die verführte Braut (Katharina Hintzen) gelangweilt sitzenlässt, sieht man ihn wieder in Aktion. Doch Daniel Scholz gibt hier nicht den fiesen Macho, sondern einen eher gelangweilten Liebhaber, der sein Selbstbewusstsein wieder aufgefrischt hat und sich jetzt seiner Zukunft widmen kann. Nur Solveigh (Judith Niederkofler) kann in ihm so etwas wie Liebe wecken; doch auch sie verlässt er, um die Welt zu erobern, jedoch unter der Versicherung, zu ihr zurückzukehren.
Den Auslandsaufenthalt verdichtet Mehler zu einer langen Szene der Völlerei, bei der die Darsteller in monströsen Fettleibigkeitskostümen liegend Nahrungsmittel aller Art in sich hineinstopfen und dazu grölen und lachen. Das Weltkind Peer lachend in Pallettenjacke in ihrer Mitte und mit abgeschmacktem Stolz prahlend. Hier feiert die berühmte „spätrömische Dekadenz“ fröhliche Urständ. Betrug und Verarmung bleiben auf den Text beschränkt, der bei dem Lärm der Orgien nicht immer gut zu verstehen ist. Aber die Einzelheiten von Peer Gynts Lebensweg sind in dieser Inszenierung sowieso von geringerem Interesse.
Aufregend wird es dann wieder, wenn er verarmt im Schiff nach Hause kommt und dieses in den sturmbewegten Fahnen des großen Vorhangs in dunkler Mondnacht untergeht. Mit den letzten Schwimmzügen rettet er sich ans gedachte Ufer, nur um dort dem Tod wieder zu begegnen, der – ganz wie Mephisto – am Ende die Abrechnung präsentiert. Doch ausgerechnet Solveigh attestiert ihm, er selbst gewesen zu sein – „ist gerettet“!
Diese letzte Szene ist noch einmal von großer Intensität, nun aber nicht mehr prall, grell oder verstörend, sondern fast philosophisch bilanzierend. Der Dialog zwischen Peer und dem Tod entwickelt sich zu einem letzten Höhepunkt, der weder pseudotiefsinnig noch sentimental wirkt. Beide Darsteller wandeln mit geradezu traumwandlerischer Sicherheit auf dem schmalen Grat zwischen sentimentalem Weltschmerz und Gemeinplatz.
Jörg Zirnsteins fast geschäftsmäßige Ironie und Daniel Scholz´ verinnerlichte Zerknirschtheit schützen diese Szene vor dem Abrutschen in aufgesetzte Welterkenntnis. Hier bewährt sich die alte Regel „weniger ist mehr“.
Wenn man sich erst einmal an die schräge Szenerie gewöhnt hat, wird dieser Abend zu einem echten Theatererlebnis, vor allem, weil Christoph Mehler und die Darsteller die Regeln des üblichen rationalen Theaters bewusst brechen und der Unmittelbarkeit weiten Raum geben. Hier wird jeder geheime Wunsch ausgesprochen und ausgelebt, bis hin zu Schreien, Stöhnen und „obszönen“ Gesten. Ein wenig verweist diese Inszenierung bereits auf die bevorstehende Fastnacht, die ja historisch als bewusste temporäre Befreiung von den strengen Regeln des Alltags entstand. Doch hier ist diese Loslösung von Vernunft und Rationalität nicht Selbstzweck, sondern dient der Suche nach der Identität, dem „Selbst“.
Die Darsteller gehen dabei bis an ihre physischen – und bisweilen auch psychischen – Grenzen und lassen dabei kaum eine Entäußerung aus. Christoph Mehler hat das Stück als eine Folge expressionistischer Bilder geformt, und die Darsteller folgen ihm dabei mit ausgeprägter Spielfreude und hohem Einsatz. Angesichts des umfangreichen Ensembles würde eine individuelle Würdigung den Rahmen der Rezension sprengen. Daher wollen wir uns auf die besondere Leistung von Daniel Scholz beschränken, der als Peer Gynt nicht nur permanente Präsenz zeigte, sondern seine Rolle auch mit hoher Konzentration, darstellerischem Können und zwingender Präsenz ausfüllte. Nicht von ungefähr zeigte er bei dem Schlussbeifall deutliche Zeichen von Erschöpfung – aber auch Befriedigung.
Das Premierenpublikum zeigte sich begeistert und spendete lang anhaltenden Beifall einschließlich vieler „Bravo“-Rufe.
Frank Raudszus
Alle Photos Copyrights © Isabel Winarsch
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