Mit ihrem neuen Roman „Neujahr“ legt Juli Zeh die packende Aufdeckung einer frühkindlichen Traumatisierung vor, die die Leserin von der ersten Seite an gefangen hält.
Henning, verheiratet mit Theresa, zwei Kinder, lebt eine moderne Partnerschaft, in der beide Eltern sich Haushalt und Kinderbetreuung teilen. Beide arbeiten in Teilzeit, sie als Steuerfachfrau im Home-Office, er als Lektor in einem Verlag. Alles ist gut geregelt, wenn auch Henning zunehmend das Gefühl hat, überfordert zu sein. Sein Chef macht ihm Druck, wollte sich zunächst gar nicht auf ein Teilzeit-Modell einlassen. Henning wiederum versucht, auch in seiner freien Zeit noch mehr Stunden zu arbeiten, um seinem eigenen Anspruch gerecht zu werden.
Auch die Betreuung der Kinder zehrt an seinen Kräften, zumal er mehr übernimmt, denn schließlich verdient Theresa mehr. Zudem plagen ihn seit einiger Zeit Panikattacken, die er nicht in den Griff bekommt.
Hinzu kommt der immerwährende Konflikt mit Theresa wegen seiner Schwester Luna, die im Leben nicht Fuß fasst, für die er sich aber immer noch verantwortlich fühlt und sie wiederholt in Theresas Home-Office wohnen lässt.
Umso wichtiger erscheint ihm eine Auszeit, also bucht er für den Weihnachtsurlaub ein Ferienhaus auf Lanzarote. Er nimmt sich vor, hier auch wieder etwas für sich selbst zu tun, um Beispiel auf das Fahrrad zu steigen und Touren zu unternehmen.
Die Silvesterfeier mit den Kindern in einem großen Hotel verläuft einigermaßen befriedigend, um Mitternacht sitzen Henning und Theresa noch auf dem Balkon und trinken auf das Neue Jahr. Alles scheint gut, alles funktioniert – nach außen. Innerlich funktioniert Henning gar nicht mehr.
In der Nacht hat er eine Panikattacke, die Theresa nicht ernst nimmt. Im Halbschlaf hat er die Vision, dass Theresa mit dem Franzosen schläft, mit dem sie am Abend während des Dinners geflirtet hat. Er sieht einen Raum mit vielen Details, und er weiß, dass dieses Haus auf Lanzarote steht, wohl ein Tagesrest von den Ferien-Villen, die er sich im Internet angesehen hat.
Früh am „Ersten Ersten“ setzt er seinen Vorsatz um, wieder mehr für sich zu tun: Er schwingt sich auf das Leih-Fahrrad und macht sich auf, den nächstgelegenen Pass zu erklimmen. Bald merkt er, dass die widrigen Umstände eine besondere Herausforderung darstellen: Es ist sehr windig, das Rad ist für eine solche Tour nicht geeignet, und er ist völlig mangelhaft ausgerüstet, ohne Wasser, ohne Proviant, ohne Sonnenschutz und ohne Sonnenbrille, ohne Geld, zudem ist er ganz untrainiert. Der Aufstieg wird zu einem Kampf gegen seine eigene Physis. Er ist entschlossen, den Kampf zu gewinnen, und überwindet verbissen Schwäche, Durst und Muskelkrämpfe. Aufgeben ist keine Alternative.
So mit sich allein, lässt er sein Leben und seinen Alltag Revue passieren, er steigert sich schließlich in eine so große Wut über sein Leben im Hamsterrad, dass er alle Aggressionen gegen seine Familie – von denen er bisher kein Bewusstsein hatte – herausbrüllt. Gleich wird er von Schuldgefühlen geschüttelt, er schämt sich für seine ungerechten Gefühle, zumal er in der Nacht zuvor einen schrecklichen Traum hatte, in dem seine Tochter ertrinkt und er selbst unfähig ist einzugreifen. Eindeutig Versagensängste.
Schließlich erreicht er das Dorf auf der Passhöhe, findet aber keinen Ort zum Einkehren. So erschöpft er ist, schlägt er – einer plötzlichen Intuition folgend – einen Schotterweg ein, der ihn zu einem etwas heruntergekommenen Anwesen führt. Er trifft auf die Besitzerin, eine Malerin, die den völlig Erschöpften mit Essen und Trinken versorgt. Er hat zunehmend das diffuse Gefühl, hier schon einmal gewesen zu sein. Tatsächlich taucht eine Geschichte aus seiner frühen Kindheit aus seiner Erinnerung auf, wie er als etwa Fünfjähriger mit seiner zweijährigen Schwester hier oben von den Eltern alleine gelassen worden ist und wie er verzweifelt etwa zwei Tage lang versucht hat, für sich und seine kleine Schwester zu sorgen.
Wie in einem therapeutischen Prozess durchlebt er diese Tage noch einmal, und als später seine Mutter aufklären kann, was damals tatsächlich passiert ist, löst sich bei Henning der innere Druck. Er ist sicher, dass die Panikattacken nicht wiederkommen. Als erste Reaktion löst er sich von der Verantwortung für seine Schwester Luna und stößt sie unsanft, aber konsequent, in ihr eigenes Leben.
Juli Zeh gelingt es meisterhaft, die innere Not eines Mannes nachzuzeichnen, der alles richtig machen will, sich aber damit überfordert. Durch den Wechsel vom Präsens der Fahrradtour mit ihren Widrigkeiten und den rückblickenden Passagen im Präteritum holt sie ihre Leser und Leserinnen ganz nah ans Geschehen heran.
Der Höhepunkt des Romans ist die Darstellung der verzweifelten, alleingelassenen Kinder. Juli Zeh taucht tief in die Kinderseelen ein, besonders die des kleinen Jungen, der sich zu Anfang bemüht, die elterliche Ordnung aufrecht zu halten, aber scheitert und mit seiner kleinen Schwester zunehmend im Chaos versinkt. Der letzte verzweifelte Akt, die Eltern zu finden, kostet die kleine Schwester fast das Leben.
Juli Zeh schreibt ein Plädoyer für die Kinderseele, die nicht vergisst, wie die Mutter glaubt. Kindern darf man keine Angst machen, auch nicht, um sie zu schützen.
Wie immer bei Juli Zeh enthält auch dieser Roman kein Wort zu viel. Ein unbedingt lesenswertes Buch.
Das Buch ist im Luchterhand-Verlag erschienen, hat 191 Seiten und kostet 20 Euro.
Elke Trost
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