Das 2. Sinfoniekonzert des Staatstheaters Darmstadt wartete mit einer ungewöhnlichen Variante des Soloparts auf, den üblicherweise ein Pianist, Violonist oder anderer Instrumentalist übernimmt. In diesem Falle war es der Dirigent Daniel Cohen. Das soll nicht heißen, dass er zur Violine griff, obwohl er die einst zu spielen gelernt hat; er dirigierte sein erstes Konzert in seiner Funktion als Generalmusikdirektor (GMD) am Staatstheater Darmstadt. Dazu hatte er ein so exemplarisches wie breites Programm zusammengestellt: von der Wiener Klassik (Mozart) über die Hochromantik (Brahms) bis zur Moderne des 20. Jahrhunderts (Nono).
Angesichts seines Anstands waren natürlich einige Worte an das Publikum obligatorisch. Die ersten kamen von Cohen selbst, der sich nach dem ersten Programmpunkt – Mozarts „Linzer Sinfonie“ – an das Publikum wandte und in gutem Deutsch über sich und die Musik, speziell die von Luigi Nono, sprach. Dann kam auch noch der Intendant zu Wort, der den neuen GMD offiziell begrüßte und dabei mit einigen launigen Anekdoten über den Dirigentenberuf aufwartete.
Musik gab es an diesem Abend natürlich auch zu hören. Es begann mit Mozarts Sinfonie Nr. 36, der „Linzer Sinfonie“, die Mozart 1783 anlässlich einer „Academie“ in Linz in kürzester Zeit sozusagen aus dem Stand komponierte. Obwohl diese Sinfonie noch zur Gattung der Auftragsstücke gehörte, zeigt Mozart hier kompositorische Qualitäten, die weit über das rein „Gefällige“ hinausgehen. Die „Linzer“ gehört daher auch zu den oft und gerne gespielten Sinfonien. Daniel Cohen achtete bei seiner Interpretation auf Schlankheit in jeder Hinsicht. Das Orchester entwickelte eine fast kammermusikalische Musikalität, die auf jeglichen auftrumpfenden Gestus verzichtete und damit ein Stück historischer Aufführungspraxis wiederbelebte. Was heute zum Kanon der musikalischen Hochbildung gehört, wurde damals vom – meist höfischen – Publikum als angenehme Unterhaltung rezipiert und durfte daher nicht zuviel akustischen und emotionalen Raum einnehmen. Der spätere großbürgerliche Kulturbetrieb hat diese kammermusikalisch angehauchten Stücke gerne mit großem Orchester und rauschendem Klang präsentiert. Da fällt es angenehm auf, wenn man – wie in dieser Interpretation – wieder jede einzelne Instrumentengruppe oder gar einzelne Instrumente heraushört. Trotz der zurückgenommenen Spielweise fehlte es dieser Aufführung weder an Frische noch an dynamischer Vielfalt. Dass Einsätze und klangliches Zusammenspiel durch Präzision und Homogenität überzeugten, braucht man bei diesem Orchester eigentlich gar nicht ausdrücklich zu betonen. Daniel Cohen zeigte sein musikalisches Engagement durch betont intensive Bewegungen, die dem Fluss der Musik folgten, sich dabei aber den einzelnen Musikern mit besonderer Intensität zuwandten.
Nachdem Daniel Cohen anschließend sich und die Musik Luigi Nonos vorgestellt hatte, begann er, letztere auch musikalisch zu präsentieren. Nono hat die „Variazioni canoniche sulla serie dell´ op. 41 die A. Schönberg“ im Jahre 1950 als sein Opus 1 komponiert. Er geht mit der Schönbergschen Vorlage relativ frei um und lässt sogar tonale Elemente gelten. Zu Beginn tauchen einzelne zaghafte Klänge einzelner Instrumente wie Rufe aus einer Trümmerlandschaft auf. Diese Metaphorik bietet sich angesichts des erst fünf Jahre vorher beendeten zweiten Weltkrieges geradezu an, zumal Nono als bekennender Kommunist und Pazifist besonders unter Krieg und faschistischem Regime gelitten haben dürfte. Tutti des Orchesters hört man in dieser Anfangsphase kaum, die Klagen und das leidvolle Vortasten überwiegen. Dabei vermeidet die schwach ausgebildete Tonalität jegliche Assoziation herkömmlicher Emotionen und verweist eher auf die apokalyptische Leere der Nachkriegszeit. Dann setzen einzelne Trommelwirbel ein, und es kommt zu erst einzelnen, dann gehäufteren musikalischen Eruptionen in den einzelnen Instrumentengruppen. Die Tatsache, dass Schönberg die Reihe nach einem Gedicht Byrons über Napoleon konzipiert hatte, erklärt Einiges an dieser Musik, da auch Napoleon nach anfänglicher Zustimmung später als Unglück für die (europäische) Menschheit betrachtet wurde. Doch ein direkter Verweis auf den charismatischen Franzosen ist Nonos Musik nicht mehr zu entnehmen.
Orchester und Dirigent waren bei diesem Stück ganz anders gefordert als bei Mozarts Sinfonie. Die ausgedehnten Pausen zwischen einzelnen Klängen und Klanggruppen zu Beginn, die weithin freie Metrik und die plötzlichen Eruptionen in späteren Phasen erfordern höchste Konzentration, und in den leisen Passagen kann ein etwas zu lautes Instrument bereits die intendierte Wirkung zerstören. Die Musiker bewegten sich – auch wegen Daniel Cohens sparsamer aber deutlicher Anweisungen – wie Seiltänzer auf einem straff gespannten Seil, in guter Balance, mit leicht anmutender Präzision auch bei den eruptiven Stellen, und schufen damit ein beeindruckendes Gesamtbild dieser modernen Komposition.
Dafür durften die Musiker bei dem letzten Programmpunkt wieder aus dem Vollen schöpfen. Brahms 1. Sinfonie in c-Moll ist nicht ohne Grund in dieser Tonart geschrieben, erinnert sie doch an die „Fünfte“ des so verehrten wie gefürchteten Vorbilds Beethoven. Die spätromantischen Sinfonien, vor allem die von Brahms, werden gerne als sinfonisches Rauschen inszeniert, bei dem die Einzelstimme wenig Gewicht hat, doch diese Interpretationsweise ist in den letzten Jahrzehnten einer transparenteren Variante gewichen. Und so bemüht sich auch Daniel Cohen von Beginn an, trotz der weit ausholenden Streicher- und Bläserbögen die Unterschiede und Kontraste herauszuarbeiten. Wo eine Fermate oder Pause notiert ist, dehnt Cohen sie gerne aus, um den klanglichen Eindruck des gerade Gehörten einsinken zu lassen und dem neuen Thema oder Klangbild einen frischen Start zu ermöglichen. Auch die Entwicklung einzelner Themen und Motive in verschiedenen Instrumentengruppen arbeitet er sehr genau heraus und verleiht dem gesamten Klangkörper dieser Sinfonie dadurch Struktur und Durchsichtigkeit. Dem üblicherweise breit dahinströmendem Klang dieser Sinfonie verordnet er deutliche Wechsel und Entwicklungen von Dynamik und Intensität., ohne dabei jedoch den grundlegenden Charakter der Musik Brahms´ zu verändern. Bei genauem Hinhören erkennt man sogar an vielen Stellen die Verbeugung vor Beethoven, ohne dass Brahms deswegen dessen Musik auch nur in Ansätzen kopieren musste. Die Verarbeitung und Verknüpfung der Themen in verschiedenen Instrumentengruppen und auf verschiedenen Intensitätsniveaus war auch Beethovens große Kunst, und Daniel Cohen gelang es an diesem Abend mit dem Orchester, diese Nähe zwischen Brahms und Beethoven deutlich herauszuarbeiten.
Das Publikum war begeistert und nahm den neuen GMD durch lang anhaltenden Beifall und „Bravo“-Rufe sofort in das Darmstädter Kulturleben auf. Der Intendant selbst überreichte die obligatorischen Blumen, die jedoch gleich weiter wanderten an die Erste Geigerin. Und Daniel Cohen unterlief den Versuch des Orchesters, ihm den Applaus alleine zu gönnen, indem er die Erste Geigerin mehrere Male höflich aber bestimmt vom Stuhl hochzog – woraufhin auch das Orchester aufstand und den verdienten Beifall entgegennahm.
Frank Raudszus
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