Wer das Theater als bürgerliche Bildungsanstalt oder als Ort moralischer Belehrung und Läuterung betrachtet, wird diese Inszenierung empört verlassen, wer Theater jedoch im Sinne von Werktreue und Authentizität versteht, wird sie als eine Sternstunde der Theaterkunst genießen.
Weshalb diese polarisierende Sicht? Die italienische „Commedia dell´arte“ verstand sich zwar als professionelles Theater, das von Berufsschauspielern gespielt wurde, doch dabei standen archetypische Darstellungen, überspitzte Handlungsstränge und Improvisation im Vordergrund. Ursprünglich bestand die „Commedia“ aus wenigen Archetypen. Dazu gehören einerseits die alten Männer, etwa der Kaufmann (Pantalone) oder der Gelehrte (Dottore), und andererseits die jungen Dienstboten, die unter den Bezeichnungen Arlecchino oder Brighella geführt wurden. Waren diese Namen anfangs nur Typenbezeichnungen der in Masken auftretenden Schauspieler, änderte sich das mit Carlo Goldoni, der seinen Figuren eben die erwähnten Bezeichnungen als individuelle Namen gab und gleichzeitig die Masken entfernte, um die Wirkung der Mimik sich entfalten zu lassen.
Dabei standen auch bei Goldoni die Namen für bestimmte Charaktereigenschaften: Pantalone ist ein geiziger Geschäftsmann, der seine Tochter an den Meistbietenden verschachert, und der Arlecchino ist der einfältige junge Mann aus dem Volk, der sich die Welt nach seinem eigenen Gusto strickt und dabei von einem Fettnapf in den nächsten tritt, was meist zu Hunger und Prügel führt.
In „Der Diener zweier Herren“ verleiht Goldoni seinem Arlecchino den Namen Truffaldino und verwandelt ihn damit in ein Individuum, das gewinnen und verlieren kann. Dazu kommt das Rahmenpersonal, das erst den Konflikt heraufbeschwört. Hier ist es Beatrice, die in männlicher Verkleidung als ihr verstorbener Bruder Federigo zu Pantalone kommt, um alte Schulden einzutreiben. Gleichzeitig kommt ihr Verlobter Florindo als Schuldiger am Tod ihres Bruders auf der Flucht vor der Polizei nach Venedig, um Beatrice zu suchen. Pantalone hatte einst Beatrices Bruder seine Tochter Clarice versprochen, sie aber nach dessen Tod an Silvio gegeben. Mit Beatrices alias Federigos Ankunft gibt es daher ein Problem, wobei der Zuschauer die Frage, weshalb Pantalone die Verkleidung nicht sofort durchschaut, großzügig übersehen muss.
Truffaldino hungert sich mangels eines zahlungskräftigen Arbeitgebers durchs Leben und verdingt sich gleichzeitig bei Florindo und Beatrice – vermeintlich Federigo – als Diener. Jetzt beginnt das übliche Verwirr- und Verwechslungsspiel, denn Truffaldino geht mit den Aufträgen und Sachwerten der beiden Herren kreativ und originell um, gerade wie die Lage es erfordert. Das führt natürlich zu immer neuen Konflikten und Beschimpfungen, die meist mit Prügel für Truffaldino enden. Dass dieses nervenaufreibende Spiel mit einer Dreifachhochzeit endet, ist für die Commedia dell´arte ebenfalls typisch. Ziel war nicht die moralische Belehrung sondern die Unterhaltung des – meist einfachen – Publikums
Regisseur Andreas Merz-Raykov hat das Personaltableau auf die wichtigen Figuren verkürzt und lässt daher den Dottore gleich ganz weg. Als Bühnenbild hat ihm Jan-Hendrik Neidert eine steil ansteigende Rampe auf die Drehbühne gestellt, die neben Treppenstufen auch über eine glatte Fläche mit erheblicher Steigung verfügt. Diese rutschen seine Figuren des Öfteren in allen möglichen Konstellationen und Haltungen herunter, meist unfreiwillig wegen ihrer Tölpelghaftigkeit oder Unbeherrschtheit. Robert Lang als Truffaldino ist in dieser Beziehung Meister aller Klassen, nutzt er doch nicht nur die Rampe auf Rücken oder Bauch sondern purzelt sogar die Treppen im dreifachen Überschlag hinunter. Das kann nur ein turnerisch – ja fast akrobatisch – versierter und trainierter Schauspieler! Doch auch seine Kollegen – Hans-Christian Hegewald als Silvio und Jörg Zirnstein als Pantalone – müssen die schiefe Bahn des Öfteren in verschiedenen Haltungen überwinden. Und auch Katharina Hintzen (Clarice) lernt die glatte Rampe in mehreren halsbrecherischen Haltungen kennen.
Die Kostüme verstärken die ganz auf Unterhaltung getrimmten Effekte. Robert Lang als Truffaldino tritt in einem gestreiften Harlekin-Kostüm mit kegelförmiger Mütze auf, die er dem Publikum nach jedem gelungen Slapstick-Nummer hinhält; Jörg Zirnstein erscheint als Pantalone im engen schwarzen Dress mit rotem Überhang, Katharina Hintzen trägt ein weites weißes Kleid. Beatrice und Florindo fallen mit ihren pompösen weißen Rüschenkostümen im Partnerlook etwas aus dem Rahmen, und Alisa Kunina (Smeraldina) muss mit wechselnden Kostümen auch mal als wütend kauderwelschender Koch auftreten.
Bei der Szenenführung setzt die Regie ganz auf den situationsbedingten Effekt. Der liegt neben schnell gesprochenen, oft absurden Texten deutlich in der Übertreibung und den gezielten Brechungen des fiktiven Rahmens. Da kann Truffaldino bei einer ausbleibenden Antwort Pantalones schon einmal lakonisch von einem „Hänger“ reden oder an anderer Stelle darum bitten, doch weiter zu spielen; und Katharina Hintzens panischer – und erfolgreicher – Ruf nach der Souffleuse ist garantiert inszeniert. Dieses unvermutete Heraustreten aus dem Handlungsrahmen in die Aufführungsebene ist bei Regisseuren und Schauspielern ein beliebtes ironisches Mittel der Brechung und findet beim Publikum immer einen Lacher – wenn es bei diesem Tempo überhaupt bemerkt wird. Der eifersüchtige Silvio lässt seinen Degen in seiner Wut nicht fünf oder zehn Mal durch die Luft zischen sondern zwischen zwanzig und dreißig Mal. Man kann sich vorstellen, dass das naive Publikum des 17. und frühen 18. Jahrhunderts dabei vor Begeisterung gejohlt hat.
Auch lokale und aktuelle Anspielungen kommen – vermeintlich – spontan vor, werden jedoch nicht überdeutlich in den Vordergrund geschoben sondern im Nebensatz hingeworfen. Offensichtliches – und erreichtes – Ziel dabei ist es, diese Anspielung als momentane Improvisation des Schauspielers erscheinen zu lassen. Das gilt auch, wenn sich Smeraldina über die untreuen Männer aufregt und ihre Suada unvermittelt auf das Publikum ausweitet. Oder wenn Clarice über die allgegenwärtige Dominanz der Männer schimpft und diese Klage unvermittelt (als Katharina Hintzen) auf Politiker, den Intendanten, den Regisseur, den Bühnenbildner und ihren Vater ausdehnt. Der bittere Klagestrom endet erst abrupt bei ihrer Mutter…
Eine herrliche Szene ist auch Beatrices Klage über den vermeintlichen Tod ihres Verlobten Florindo. Im Stil einer Tragödin steigert sie sich auf Italienisch mit erhobenem Haupt vor dem Publikum in immer höheres Pathos hinein und merkt dabei gar nicht, dass der so ekstatisch Betrauerte längst hinter ihr steht. Man kann sich auch diese Szene gut auf dem Marktplatz eines kleinen italienischen Dorfes des frühen 18. Jahrhunderts vorstellen, wo die Darstellerin endlich einmal die Gelegenheit erhält, ihr ganzes theatralisches Talent erstrahlen zu lassen.
In dieser Inszenierung arbeiten Regie und Darsteller auf kongeniale Weise zusammen, um eine höchstmögliche Wirkung im Sinne der Commedia dell´arte zu erzielen. Man möchte eigentlich angesichts des hohen Tempos und des sprühenden Witzes keine einzelne Person des Schauspielerteams herausheben, aber Robert Lang ist als Truffaldino sowohl physisch als auch darstellerisch dermaßen präsent, dass er der Inszenierung seine ganz eigene Prägung verleiht. Seine Mitspieler stehen dahinter jedoch nicht zurück. Jörg Zirnstein ist ein mit allen Wassern gewaschener Pantalone, der seinen frechen Berliner Tonfall bewusst als schauspielerisches Mittel einsetzt. Mathias Znidarec gibt einen so steifen wie standesbewussten Florindo, der seine Mannesehre nicht nur sprachlich vor sich herträgt. Judith Niederkofler überzeugt sowohl als verkleideter Mann als auch als trauernde Frau, obwohl diese Rolle noch am wenigsten Slapstick-Flair verbreitet. Hans-Christian Hegewald muss sich als Silvio etwas zu sehr auf das Degenschwingen beschränken, tut dies jedoch mit Ausdauer, und Alisa Kuhnert spielt sowohl die listige Dienerin wie auch den schimpfenden Koch mit Verve. Bleibt noch der körperlich schwer behinderte Schauspieler Erwin Aljukic zu erwähnen, der seine Rolle als Brighella mit viel Witz und messerscharfer Artikulation ausfüllt und sich auch verschiedene publikumswirksame Regiewitze mit seiner Kleinwüchsigkeit großmütig gefallen lässt.
Das Premierenpublikum war begeistert und bedachte Ensemble und Regie-Team mit starkem Beifall.
Frank Raudszus
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