Im ersten Sinfoniekonzert des Staatstheaters Darmstadt stand Gustav Mahler im Mittelpunkt. Da sich seine 9. Sinfonie über die stattliche Dauer von achtzig Minuten erstreckt, blieb keine Zeit für ein gewichtiges Rahmenprogramm, schon gar nicht für das übliche Solokonzert. Man entschied sich daher, dem Monumentalwerk zwei kleinere Kompositionen voranzustellen, die jedoch durch ihren Vokalcharakter das übliche Solokonzert andeutungsweise ersetzten. Die Sopranistin Anna Lucia Richter sang Mozarts Motette „Exsultate, Jubilate“ sowie Anton Weberns „Vier Lieder für Gesang und Orchester“ op. 13. Als Dirigent hatte das Staatstheater kurzfristig Simon Gaudenz gewinnen können, der bereits einmal in Darmstadt gastiert hatte.
Mozart komponierte die Motette im Alter von siebzehn Jahren und hatte bereits hier seinen unverwechselbaren Klang entwickelt. Das aus zwei Arien und einem Rezitativ bestehende Werk wirkt auf den Zuhörer eher wie ein Opernauszug denn wie eine geistliche Komposition. Das Jubilieren und Anbeten kommt nicht im strengen Gewand des demütigen Kirchengesangs daher sondern fast übermütig und weltlich-freudig. Die Zuhörer werden mit diesem Stück eher auf einen abwechlungsreichen musikalischen Abend denn auf eine religiöse Erfahrung eingestimmt. Anna Lucia Richter interpretierte das Stück mit der Freude eines jungen Menschen an gelungener Musik und auch in den hohen Lagen mit spielerischer Leichtigkeit.
Anton Weberns Lieder präsentieren sich dagegen als Kontrastprogramm. Der emotional dichte Inhalt der Gedichte von Karl Kraus, Georg Trakl sowie zwei chinesischen Poeten der Frühzeit thematisieren Einsamkeit und Fremdheit, aber auch die Schönheit der Natur. Webern bildete diese emotionalen Elemente nicht mehr wie die traditionelle Musik mit den Mittel der diatonischen Musik ab – Dur/Moll, aufsteigend (Jubel), absteigend (Trauer) – sondern nahm seine harmonischen Anregungen aus Schönbergs Zwölftonmusik. Damit verlieren die aufeinander folgenden Töne ihren emotionalen „Sinn“ aus der uns vertrauten Musik und stehen in ihrer Wirkung weitgehend allein. Die Lieder sind durchkomponiert, d.h. der gesungene Text ist identisch mit der poetischen Vorlage. Es gibt weder Wiederholungen noch Koloraturen. Jeder Silbe des Textes ist ein Ton zugeordnet, und die Wirkung ergibt sich aus den Tonhöhen und -längen, der jeweiligen Intensität und der Differenz zum vorangehenden Ton. Die typischen menschlichen Reflexe auf die vertraute Musik entfallen damit, und der Zuhörer muss dem einzelnen Wort und seiner Vertonung genau folgen, um den emotionalen Gehalt des Liedes nachzuvollziehen.
Aus gesangstechnischen Gründen begann das Konzert entgegen dem Programmheft mit Weberns Liedern, die Anna Lucia Richter gestochen scharf mit hoher Präzision auch bei starken Intervallsprüngen interpretierte. Ihr Vortrag wirkte keinen Augenblick angestrengt, obwohl die Musik kaum „natürliche“ Tonfolgen enthält. Bei ihr wirkten die Lieder ernst und kompromisslos, doch nie beliebig oder gar unmusikalisch. Anhand dieser Lieder und ihrer Interpretation durch die Sopranistin lässt sich die Logik der musikalischen Entwicklung zu Beginn des 20. Jahrhunderts nachvollziehen. Authentische Emotionen lassen sich nicht mehr mit herkömmlichen musikalischen Mitteln erzeugen, sondern können nur noch aus einer gewissen harmonischen Distanz entstehen – so die Botschaft.
Gustav Mahlers 9. Sinfonie kommt mit großem Orchester daher, wie es um die Jahrhundertwende üblich war. Zwei Jahre vor Mahlers Tod entstanden, wird sie oftmals als Abschiedswerk verstanden, obwohl Mahler noch eine, allerdings unvollendete, 10. Sinfonie komponiert hat. Der Abschiedscharakter ergab sich aus dem Verlauf des letzten Satzes, der zum Schluss wie ein langsam verlöschendes Lebenslicht mit nur noch wenigen Instrumenten verklingt. Die Metapher des Todes drängt sich förmlich auf.
Der erste Satz beginnt verhalten, fast zögerlich, und steigert sich dann langsam aber stetig zu weiten Klangräumen. Einzelne Stimmen wie gestopfte Trompete, Flöte, Oboe, Horn und Harfe verleihen dem Satz immer wieder einen fast kammermusikalischen Charakter. Eine Idylle im getragenen 3/4-Takt klingt aus zu einem nahezu metrikfreien Adagio mit wenigen Instrumenten, dem ein Aufschwung hin zu einem wahren Klangrausch folgt. Hier verdeutlicht sich der Unterschied zur klassischen Sinfonie, die jedem Satz seine ganz eigene, unverwechselbare Dynamik verleiht. Mahler dagegen geht in jedem Satz von Neuem durch alle Tempi und Intensitätsskalen. Jeder Satz ist eine Sinfonie in sich. Der zweite Satz beginnt derb wie die Musik auf einem Volksfest. Die Blechbläser werden zur Dorfkapelle – nur präziser -, und die Metrik mutet mal tänzerisch verspielt, mal wie ein zackiger Marsch an. Durchaus möglich, dass Mahler mit diesem Satz die Militärmusik und damit den grassierenden Militarismus karikiert hat.
Das steigert sich noch einem in der „Rondo-Burleske“ des dritten Satzes, der mit einem wilden Bläserauftritt beginnt. Im Verlauf dieses Satzes dreht sich das musikalische Rad immer schneller und greller. Zeitgenossen Mahlers haben hier das sich immer schneller drehende Karrussel als Metapher gewählt. Auch diesen Satz kann man als musikalischen Kommentar zur politischen und gesellschaftlichen Entwicklung des frühen 20. Jahrhunderts sehen. Dass dieses Karrussel nur wenige Jahre später auseinanderfliegen würde, hatte aber wohl selbst der 1911 verstorbene Mahler nicht geahnt. Man kann diesen Satz aber auch persönlich als Mahlers verzweifeltes Aufbegehren gegen seine schwere Krankheit und die Schicksalsschläge – Tod der Tochter – interpretieren.
Der letzte Satz verströmt dann Entsagung und Frieden. Tatsächlich kann man den Eindruck gewinnen, Mahler habe seinen baldigen Tod vorausgesehen und damit seinen Frieden gemacht. Langgezogene Themenbögen vor allem der Streicher drücken mit ihrem satten und warmen Klang eine intensive (Todes-)Sehnsucht aus. Dabei kommt der ausgereifte und homogene Klangkörper dieses Orchesters in hoher Intensität zum Ausdruck. Flöten und Celli verstärken den lyrisch-entsagungsvollen Grundtenor durch lange Passagen. Das Ende dieses Satzes zieht sich lange hin – wie das Sterben eines Menschen – und schlägt sich in immer leiseren Passagen einzelner Instrumente oder kleiner Instrumentengruppen nieder. Mehrere Male scheint das Ende schon gekommen, doch dann flackert wieder ein dünnes Thema in einer Geigenstimme auf, und das Orchester rafft sich noch einmal mit wenigen Stimmen zu einem vermeintlich letzten Lebenszeichen auf. Die letzten Töne sind dann kaum noch vernehmbar.
Das Orchester lief in diesem letzten Satz noch einmal zu Hochform hinsichtlich Präzision und Intensität auf. Die Kunst besteht dabei darin, hohe Intensität mit geringster Lautstärke zu verbinden. Diese Kunst beherrschten Orchester und Dirigent an diesem Abend bis zur Perfektion, und sie spielten ihr Können bis zum letzten Ton mit Konsequenz und höchster Konzentration aus.
Frank Raudszus
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