Das Abschlusskonzert des Rheingau-Musik-Festivals bot am 1. September gleich zwei Höhepunkte: erst wurde der kanadische Dirigent Yannick Nézet-Séguin mit dem „Rheingau Musik Preis 2018“ ausgezeichnet, und dann serviert er mit seinem Orchester, dem „Rotterdam Philharmonic Orchestra“, ein musikalisches Diner erster Güte – mit Mozart und Bruckner. Die kurze Laudatio für den Preisträger hielt Festival-Chef Michael Herrmann persönlich.
Wolfgang Amadeus Mozarts „Haffner Sinfonie“, KV 385, in D-Dur entstand eher aus einer Verlegenheit. In kürzester Zeit zauberte Mozart förmlich aus einer früheren Serenade für die Familie Haffner durch Verkürzung und Umschreibung eine seiner beliebtesten Sinfonien aus dem Hut. Yannick Nézet-Séguin nutzte die etwas problematische Akustik der Basilika geschickt für seine musikalischen Zwecke. Der vor allem in den tieferen Tonlagen ausgeprägte Hall ließ die dunklen Orchesterklänge des ersten Satzes – „Allegro con spirito“ – wie tief aus dem Bauch kommen und lud sie damit eine emotional auf. Auch wenn die Transparenz des Orchesterklangs unter eben diesem Hall etwas litt, übte der unfreiwillig verstärkte Klangrausch eine alles beherrschende Wirkung aus.
Im Andante des zweiten Satzes bestachen anfangs vor allem die geradezu tänzerischen Phrasierungen des Streicher, die Nézet-Séguin präzise und akzentuiert intonieren ließ. Dieser Satz präsentierte sich unter seinen Händen – er dirigierte ohne Stab – nuancenreich und im besten Sinne unterhaltsam. Der dritte Satz mit seinem „Menuetto“ kam kraftvoll und zupackend daher, so gar nicht, wie man sich im Rokoko ein zierliches Menuett vorstellte. Hier beweist Mozart die künstlerische Freiheit des Künstlers bei der Interpretation eines vorgegebenen musikalischen Rahmens, und das niederländische Orchester setzte Mozarts Idee mit Verve und Genauigkeit um.
Der letzte Satz strebt vom ersten Takt an seinem Ziel im Stil einer Parforce-Jagd entgegen. Yannik Nézet-Séguin hatte diese Jagd jedoch auch ohne Dirigentenstab jeden Augenblick unter voller Kontrolle. Mit vollem Körpereinsatz und genauen, bisweilen weit ausholenden Armbewegungen holte er einzelne Instrumentengruppen je nach musikalischem Momentum in den Vordergrund, dämpfte andere oder forderte eine kontrollierte Intensitätssteigerung ein. In jedem Augenblick hatte man das Gefühl, dass das Orchester ihm mit höchster Aufmerksamkeit folgt und seine musikalischen Vorstellungen geradezu verinnerlicht hat. Wie aus einem Guss strömte diese temperamentvolle Musik von der Bühne in den weiten Raum der Basilika.
Dagegen bot Anton Bruckners 7. Sinfonie, die „Romantische“, in Es-Dur ein ganz anderes musikalisches Programm, und der zeitliche Unterschied von einhundert Jahren zwischen diesen beiden Werken war geradezu physisch spürbar. Schon die jeweilieg Länge spricht Bände: ist Mozarts Sinfonie mit etwa zwanzig Minuten Dauer noch ein Produkt der höfischen Gesellschaft, die keine „Vereinnahmung“ durch die Musik eines „Dienstboten“ – als solche wurden die Musiker letztlich gesehen – duldete, so vertritt Bruckners „Romantische“ mit einer Dauer von über einer Stunde das autonome Werk eines Künstlers, der in seiner Musik eine persönliche und religiöse Botschaft formuliert.
Man kann die 7. Sinfonie als den Kampf eines gläubigen menschen mit dem Leben, dem Glauben und dem Zweifel interpretieren. Der erste Satz zeigt das Erwachen eines Menschen vom Kind zum Erwachsenen mit allen Stadien. Der langsame Aufstieg der Musik zum befreienden und befreiten Auftritt spiegelt sich im ersten Satz wider. Gleich das einleitende Hornsolo – ein Albtraum für jeden Bläser – erklang ohne jegliche Intonationsbrüche sauber und klar. Die folgenden Passagen bestachen durch die im Detail sorgfältig herausgearbeitete Vielfalt des musikalischen Ausdrucks. In den leiseren Stellen vernahm man Verlorenheit und die Suche nach der Wahrheit. Die aufbegehrenden Partien wirkten wie Rufe aus der Tiefe der Seele, und ihnen folgten die Eruptionen der Erkenntnis in abwärts führenden Fanfaren. Erstaunlich war die angesichts der Akustik des Hauses hohe Transparenz des mächtigen Klangkörpers.
Der zweite Satz beginnt mit einem lyrischen Thema, das in einen langsam und ernst schreitenden Duktus übergeht. Beeindruckend war die sehr schlanke Interpretation, die dabei einen untergründigen, suchenden und fragenden Charakter entwickelte und schließlich in einen Aufschwung der Zuversicht mündete. Dirigent Nézet-Séguin reizte dabei die langsamen Tempi, die Fermaten und die Pausen konsequent aber Bedacht zu einem lang gezogenen Spannungsbogen aus.
Der dritte Satz beginnt mit schnellen, anwachsenden Bläserfanfaren. Deren Stakkati spiegeln die Hektik der säkularen Welt und das unzufriedene „Meckern“ der Gesellschaft wider und wecken im Gläubigen noch einmal Unsicherheit und Zweifel. Doch die Macht des Glaubens schlägt sich in den weiten Bögen der Musik nieder, die auch in diesem Satz die Führung übernehmen und schließlich in ein jubelndes Finale übergehen.
Im Finalsatz treiben anfangs die Bässe das Orchester vor sich her, das darauf mit einer weit ausholenden Geste antwortet. In manchen Passagen erinnert dieser Satz an Beethovens „Pastorale“, wenn sich ein „heiteres Erwachen“ aus den Glaubenskämpfen ankündigt. Abgeklärt verbreitet die Musik in diesem Satz in weit gespannten Bögen die Botschaft von Versöhnung und Erlösung. Yannick Nézet-Séguin und das Rotterdam Philharmonic Orchestra verliehen dieser hohen Stimmung einen so unpathetischen wie intensiven Ausdruck. Man hatte das Gefühl, dass Dirigent und Orchester Monate lang um jeden Takt gerungen hatten und keinen einzigen Ton dem Zufall überlassen wollten. So intensiv, variabel und vieldeutig hat man Bruckners 7. Sinfonie selten gehört.
Das Publikum spürte das Besondere dieses Konzertabends und dankte den Mitwirkenden mit lang anhaltendem Beifall und stehenden Ovationen. Yannick Nézet-Séguin präsentierte daraufhin voller Freude und als Dank ans Publikum die Doppelpackung Rheingau-Wein – obligatorisches Geschenk des Festival – stellvertretende für das gesamte Orchester mit erhobenen Armen.
Frank Raudszus
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