Schon lange vor Goethe hat die Menschen die Frage danach umgetrieben, „was die Welt im Innersten zusammenhält“. Bereits die Antike hatte sich Gedanken über die Grundlagen der Welt gemacht und die vier Basis-Elemente Luft, Wasser, Erde und Feuer definiert. Seit der Wissenschaftsexplosion des 19. Jahrhunderts ist diese naive Sicht dahin, und mit der Definition der Elemente-Tabelle, angefangen beim Wasserstoff und derzeit endend bei Nummer 103, liegt eine systematische Beschreibung aller Materie vor. Die uns haptisch vertraute Materie – Wasser, Luft, Erde – setzt sich dabei aus chemischen Verbindungen der Grundelemente zusammen.
Mit dem Atom-Modell, dessen Kern aus Protonen und Neutronen besteht und dessen Elektronen den Kern auf verschiedenen Bahnen umkreisen, stellen sich weitere schwierige Fragen: woraus bestehen Protonen und Neutronen, d.h. was bedeutet „Masse“ überhaupt, wenn die naive haptische Erfahrung nicht mehr gilt? Warum „stürzen“ die negativ geladenen Elektronen nicht auf den positiv geladenen Kern? Warum kleben Neutronen und vor allem Protonen im Kern zusammen, obwohl sich doch gleiche Ladungen abstoßen? Im letzteren Fall sprechen die Physiker von der „starken Wechselwirkung“, d.h. dass irgendwelche Teilchen oder Kräfte für diesen Zusammenhalt sorgen. Unter der „schwachen Wechselwirkung“ versteht man dagegen die weiträumige Wirkung elektromagnetischer Wellen; darunter fällt u. a. das Licht, dass auch nach Millionen Kilometern noch reflektiert oder absorbiert wird. Auch der Zerfall freier Neutronen fällt darunter.
Seit dem Ende des 19. Jahrhundert denken Physiker über diese Fragen nach und haben eine Reihe von Experimenten ersonnen, mit denen sie das Verhalten von Kernelementen beobachten und deuten konnte. Dabei landeten sie u.a. bei der Kernspaltung – die uns die Bombe und die Kernkraft gebracht haben – und der Kernfusion, die jedoch derzeit noch nicht technisch kontrolliert nutzbar ist.
Lawrence M. Krauss geht der Suche der Wissenschaftler nach der Grundstruktur der Materie in chronologischer Weise nach, indem er bei der Antike und Platons Höhlengleichnis beginnt. In diesem schauen die Höhlenbewohner mit dem Rücken zum Höhleneingang auf eine Wand, auf der nur die Schatten der Ereignisse der „wahren“ Welt erscheinen. Sie würden jeden, der über eben diese „wahre“ Welt aus eigener Anschauung berichten würde, als verrückt betrachten…
Von Platon gelangt er in einem großen Sprung zu Galilei und dann zu Newton, der die Gesetze der sicht- und tastbaren Welt formulierte. Anschließend kommt er zu den eher unanschaulichen Naturerscheinungen wie den Magnetismus, die Elektrizität und den darauf aufbauenden Elektromagnetismus. Maxwell ist der erste Fixstern an Krauss´ Erkenntnishorizont, hat er doch als erster den Zusammenhang von Elektrizität und Magnetismus erkannt und in Gestalt seiner Wellengleichungen formuliert. Auch die Erkenntnis, dass das Licht eine elektromagnetische Welle ist, basiert letztlich auf Maxwells Theorie.
Von Maxwell kommt er direkt zu Einstein, der den Widerspruch von Galilei (Geschwindigkeiten addieren sich) und Maxwell (Die Lichtgeschwindigkeit ist absolut) dadurch löste, dass er die Zeit als relative Größe für unterschiedlich schnell bewegte Beobachter definierte. Von da kommt er zu Planck und dessen Erkenntnissen zur Quantelung des Lichts sowie der daraus folgenden Erkenntnis Einsteins, dass sogar das Licht selbst aus (masselosen) Teilchen bestehe, den Photonen. Während weniger Jahrzehnte hatten sich die wissenschaftlichen Fortschritte buchstäblich überschlagen, ohne dass es die Öffentlichkeit so recht mitbekam. Zu unanschaulich und unverständlich waren die Erkenntnisse, und diese Eigenschaft sollte sich in dem darauf folgenden Jahrhundert noch kräftig verstärken.
Heisenberg, Dirac, Pauli und Fermi sind weitere große Namen, die diesen ersten großen Teil mit zehn Kapiteln prägen. Sie entwickelten nicht nur die Quantentheorie mit Heisenbergs grundlegender „Unschärferelation“, sondern auch die Quantenelektrodynamik (QED), fanden das Neutron als Verbindung von Proton und Elektron und formulierten das Prinzip der „schwachen Wechselwirkung“, die den Zerfall von Neutronen und Umwandlung in Proton und Elektron bewirkt. Die Theoretiker schließlich entwickelten gleichzeitig eine mathematische „Symmetrie-Theorie“, der zufolge jedes Teilchen über ein symmetrisches Pendant verfügte. Lange Zeit war diese Theorie umstritten, da man die Teilchen nicht fand; doch mit der Entdeckung des Positrons und des Neutrinos gewann diese Theorie immer mehr Anhänger. Eine vollständige Symmetrie würde allerdings zur gegenseitige Anihilierung aller Teilchen führen, und erst eine „Symmetriebrechung“ führte zu Inhomogenitäten des Teilchen-Kosmos und zur Bildung von stabilen Strukturen. Die erwähnte „schwache Wechselwirkung“ schließlich ist nach heutiger Überzeugung der Physiker die Ursache für die Entstehung höherwertiger Atomkerne, komplexerer (chemischer) Elemente und damit schließlich der Galaxien, der Erde und des (menschlichen) Lebens.
Krauss hat sein Buch in drei Teile unterteilt und sie jeweils mit entsprechenden Namen des Alten Testaments übertitelt. Der erste Teil trägt den Titel „Genesis“ und spiegelt den Erkenntnisprozess des Menschen bis hin zu dem großen Theorien des 20. Jahrhunderts wieder. Nach diesen oben skizzierten zehn Kapiteln der „Genesis“ verfügt der Mensch über ein geschlossenes Weltbild, ohne jedoch jede einzelne Theorie beweisen zu können oder über eine einheitliche Theorie – die sogenannte „Weltformel“ – zu verfügen. Immer noch bestehen danach die Widersprüche zwischen Relativitätstheorie, Quantentheorie und Gravitation.
Der zweite Teil, „Exodus“ übertitelt, schildert den Auszug der Wissenschaftler in das Land der ungelösten Probleme mit dem festen Vorsatz, der Materie die letzten Geheimnisse zu entreißen, den die drei großen Theoriegebiete erst als solche herausgearbeitet hatten. Dabei musste die Experimentalphysik die Beweise für die verschiedenen Theorien heranschaffen, die auf dem Boden der erwähnten Widersprüche blühten. Erst die Technik des 20. Jahrhunderts mit der praktischen Anwendung elektromagnetischer Wellen und der Entwicklung immer größerer Beschleuniger, leistungsstarker Rechner sowie entsprechender Detektoren ermöglichte diese Suche. Detailliert beschreibt Krauss die oft im Zickzack verlaufenden Aktivitäten, die Irrwege und die Erfolgserlebnisse, wenn wieder ein prognostiziertes Teilchen gefunden war. In diesem Teil wird nicht nur die Symmetrie der kosmologischen wie der subatomaren Welt erkannt und beschrieben, sondern auch deren Brechung und die spontane Erzeugung massiver Teilchen aus dem Vakuum als Urgrund der uns bekannten Welt festgeschrieben. Symmetrie bedeutet, dass die physikalischen Gesetze kein Unterschied zwischen den von Menschen definierten Begriffen „links und rechts“ oder „positiv und negativ“ kennen. Doch in bestimmten Fällen, die vom Zufall abhängen (können), ist genau dies der Fall, und daraus entstehen spontan stabile Strukturen.
Der dritte Teil enthält dann die „Offenbarung“, das heißt im Diesseitigen den Durchbruch zu einer Großen Vereinheitlichten Theorie (engl.: GUT). Mehrere große Probleme standen an: einmal musste die „starke Wechselwirkung“ erklärt werden, die die Atomkerne aus mehreren elektrisch identisch geladenen Protonen zusammenhält – denn gleiche Ladungen stoßen sich ab! Weiterhin musste eine Erklärung für dunkle Materie und dunkle Energie her, die sich aus der bekannten Materie und Energie nicht herleiten lässt. Der Physiker Higgs führte daher ein im gesamten Vakuum des Kosmos existierendes Feld aus Teilchen ein, die nicht direkt mit den uns bekannten Teilchen interagieren. Das Feld und dessen konstitutierendes Teilchen konnten jedoch nicht gefunden werden. Erst mit den energetisch gesteigerten Beschleunigern des CERN gelang es schließlich 2012 mit so aufwendigen wie komplexen Experimenten, dieses nebulösen Teilchens habhaft zu werden. Damit war ein wichtiger Baustein für die Große Vereinheitlichte Theorie gefunden, diese selbst damit jedoch nicht „bewiesen“. Naturwissenschaftler halten einen „Beweis“ für ihre Theorien sowieso für unmöglich. Man kann eine Theorie nur „falsifizieren“, und solange das nicht gelingt, gilt sie als Arbeitshypothese weiter.
In diesem letzten Teil wird auch deutlich, dass die Zeit der großen Einzelpersonen vorbei ist, auch wenn Higgs für seine schon vor Jahrzehnten aufgestellte Definition des später nach ihm benannten Teilchens schließlich den Nobelpreis erhielt. Heute arbeitet man in großen Arbeitsgruppen dicht an den mächtigen Beschleunigern und hat damit die sogenannten „Quarks“ als ein Bestandteil des Protons entdeckt. Doch erklärt sind damit weder die starke Wechselwirkung noch sämtliche scheinbaren(?) Widersprüche zwischen den etablierten Theorien des 20. Jahrhunderts. Es wird noch vieler Experimente und durchlaufener Irrwege bedürfen, um alle Widersprüche aufzulösen und eine einheitliche „Weltformel“ zu finden – wenn dies denn überhaupt möglich ist.
Lawrence M. Krauss gebührt höchste Anerkennung für seine so detaillierte wie umfangreiche Geschichte der von Menschen geschaffenen Naturwissenschaft. Dabei zollt er sowohl vielen seiner bereits verstorbenen oder noch lebenden Kollegen höchstes Lob für ihre Genialität, ihr Wissen, ihren ehrlichen oder geradlinigen Charakter und – ja: auch“! – ihren Humor. Über sich spricht er selten, und wenn, dann im Tone des bescheidenen Assistenten. Nur zwischen den Zeilen und aus dem gesamten Tenor dieses Buches erfährt man, dass er zu den Großen der Wissenschaft gehört. Das Buch ist bewusst populärwissenschaftlich gehalten und verzichtet auf jegliche mathematische Formeln. Das bedeutet jedoch nicht, dass es leicht verständlich ist. Zu komplex sind die Themen, und die menschliche Anschauung sowie der „gesunde Menschenverstand“ helfen schon nach wenigen Seiten nicht mehr. Eine naturwissenschaftliche Ausbildung hilft beim Verständnis, reicht aber in den meisten Fällen nicht aus. Dieser Buch will richtiggehend erarbeitet werden.
Das Buch ist im Knaus-Verlag erschienen, umfasst 383 Seiten und kostet 26 Euro.
Frank Raudszus
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