Der Hof des französischen Königs Ludwig XIV. (1638-1715) war bekannt für seine exzessiven höfischen Feste. Üblicherweise wertet man diese Tatsache als Ausfluss einer vergnügungssüchtigen wenn nicht dekadenten Gesellschaft. Doch steckte in Wirklichkeit politischer Kalkül dahinter: die ausufernden gesellschaftlichen Aktivitäten am Hof forderten die Anwesenden aller Adligen, wollten sie ihre Stellung bei Hofe und in der Gesellschaft nicht gefährden, und erschwerten dadurch geheime Intrigen und Verschwörungen, wenn sie diese nicht gar unmöglich machten. Als positiver Nebeneffekt dieser machiavellistischen Hofhaltung ergaben sich weit gespannte künstlerische Aktivitäten mit den Schwerpunkten Musik und Tanz. Jean-Baptiste Lully und nach ihm Jean-Baptiste Rameau waren die herausragenden Hof-Komponisten dieser Zeit. Der Inhalt der musikalischen und tänzerischen Darbietungen unterlagen natürlich den strengen Gesetzen des Hofes. Kritik an König und Staat war undenkbar, also beschränkten sich die Texte und gespielten Szenen auf mythologische Themen und auf das zwar delikate aber weitgehend ungefährliche Thema der Liebe.
Das Rheingau-Musik-Festival lässt diese Zeit in einem Abend wiederauferstehen, indem das Londoner „Orchestra of the Age of Enlightment“, spezialisiert auf alte Musik, höfische Musik von verschiedenen Komponisten des französischen Barock, unter anderen Lully und Rameau spielt, zu der die Gruppe „Les Corps Eloquents“ in historischen Kostümen die passenden Tänze liefert. Dabei geht es hier nicht um modernes Tanztheater, sondern die Compagnie tanzt tatsächlich die am Hof Ludwig des XIV. üblichen Gesellschaftstänze naturgetreu nach, soweit es die Dokumentenlage zulässt. So mancher Purist wird hier sicherlich von nostalgischer Folklore reden, doch für ein breiteres Publikum ist dieser Abend durchaus so unterhaltsam wie informativ. Aus eben dem Grunde, dass die Inhalte in ihrer Naivität und gesellschaftlichen Affirmation für die heutige Theaterlandschaft – zu Recht? – nicht akzeptabel sind, gibt es – außer den Opern – kaum eine realistische performative Wiedergabe dieser Epoche. Die Musik der erwähnten Komponisten gehört zweifellos zum Repertoire der meisten Orchester, aber bitte ohne die „folkloristischen“ Beigabe der damaligen Tänze. Das Rheingau-Musik-Festival hat hier durchaus Mut bewiesen und ein Stück Historie in die Basilika des Klosters Eberbach geholt.
Der Abend enthält eine rudimentäre Handlung in zwei Akten mit vier Szene bzw. drei Szenen. Am Anfang steht die Ouvertüre aus Lullys Oper „Le Triomphe de l´Amour“, darauf folgt die Szene „Idyllisches Vergnügen“ mit sechs kurzen Stücken Lullys. Die zweite Szene steigert sich zu „Vergnügen“ – nicht mehr unbedingt idyllisch – mit Stücken von Lully und André Campra. Die dritte Szene ist ein Zwischenspiel – „Ballet des Fleurs“ – mit Stücken von Rameau und Lully, und in der letzte Szene gibt es schließlich „Ärger“, da vor allem die Herren es mit den Avancen und Eifersüchteleien zu weit getrieben haben. Rache, Eifersucht und verschmähte Liebe feiern ein eigenes Fest. Dabei folgen diese kurzen Szenen nicht einer geschlossenen Handlungsstrang, sondern sind Auszüge aus verschiedenen Opern. Dennoch entwickelt sich vor den Augen und Ohren der Zuhörer so etwas wie eine Handlung, da es stets um die verschiedenen Arten von Liebeslust und – leid geht.
Nachdem in der letzten Szene des ersten Aktes die Pauken ein schweres Unwetter als Symbol des „Ärgers“ simuliert haben, haben sich die dunklen Wolken zu Beginn des zweiten Aktes noch nicht verzogen. „Verlust und Verzweiflung“ prägen die erste Szene, und erst in der zweiten Szene schlägt die schlechte Stimmung in „Scherz und Übermut“ um. Stücke von Rameau, Jean-Joseph Mouret, Lully, Campra, Marin Marais und Michel Corrette spiegeln diesen Umschwung musikalisch wieder.
Die letzte Szene feiert dann – wie es sich in einem höfischen Stück gehört – die große „Versöhnung“. Hier beherrscht Jean-Philipp Rameau – neben Lully und Campra – mit sieben Stücken aus zwei Opern das Feld.
Die meisten der Musikstücke werden von der Compagnie „Les Corps Eloquents“ mit Irène Feste, Romain Arreghini und Hubert Hazebroucq (Choreographie) tänzerisch begleitet. Dabei richtet sich die Körpersprache der Darsteller an den Texten aus und signalisiert je nach Text Verliebtheit, Begehren, Eifersucht, Enttäuschung und Freude. Jede Choreographie erzählt dabei ein kleine Geschichte, die man auch ohne den Text versteht. Dies ist wichtig, da ein Mitlesen der im Programmheft abgedruckten Texte wegen der Lichtverhältnisse kaum möglich ist. Die Lichtregie versucht bewusst eine Stimmung zu erzeugen, wie sie wohl in den von Kerzen nur schlecht erleuchteten Räumen im königlichen Schloss von Versailles geherrscht haben mag.
Die Musik führt die Zuhörer gerade durch ihre barocke Gleichförmigkeit wie durch einen Tunnel zurück in die Zeit des Barock. Damals war die Welt (scheinbar) noch heil: Kirche und Staat setzten einen unbestrittenen Rahmen für den Einzelnen, und die Musik feierte diese Welt durch einen schreitenden, fast gravitätischen Rhythmus. Alle Emotionen folgten einem ähnlichen Schema, das keine Eruptionen kannte. Gefühlswallungen wurden höchsten durch höhere Intensität und Dichte ausgedrückt, nicht aber durch starke Dynamikwechsel wie später bei Mozart oder Beethoven. Das schafft einen fest abgezirkelten musikalischen Rahmen mit vielen Wiederholungen, in dem man sich als Zuhörer einrichten kann. Das „Orchestra of the Age of Enlightment“ interpretiert diese Musik auf alten Instrumenten und in einer Weise, die man aus der Literatur als historisch herausgelesen hat. Mangels Audiokonserven aus dem Barock ist man halt auf Annahmen angewiesen. Die Musik übt mit ihrem fragilen, stets etwas klagenden Grundton mit zunehmender Dauer intensiver auf den Zuhörer ein und erzeugt eine fast schon spirituelle Befindlichkeit. Dazu trugen an diesem Abend auch die beiden Solisten Anna Dennis (Sopran) und Nick Pritchard (Tenor) bei, die den Texten mit ihrer intensiven Interpretationen und den stimmlichen Präsenz eine je eigene und berührende Emotionalität verliehen.
Auch wenn dieser barocke Abend wegen seiner – dramaturgisch bedingten – eingeschränkten musikalischen und choreographischen Bandbreite einige Längen aufwies, brachte er doch das Lebensgefühl des Barockzeitalters sehr gut zum Ausdruck. Schade nur, dass schon in mittleren Reihen wegen der horizontalen Sitzanordung von den Tanzvorführungen nicht mehr viel zu sehen war. Aber das lässt sich halt nicht ändern.
Frank Raudszus
No comments yet.