Das alljährliche „Rheingau Musik Festival“ präsentiert nicht nur erstklassige Interpretationen alter und neuer Musik der verschiedensten Epochen bis zum zeitgenössischen Jazz, sondern auch musikalische Experimente, die sich in ungewohnte Klangwelten begeben. Dazu gehört das dreiteilige „Brandenburg Project“, in dem das „Swedish Chamber Orchestra“ unter seinem Leiter Thomas Dausgaard jeweils zwei der „Brandenburgischen Konzerte“ Johann Sebastian Bachs zwei speziell zu diesem Zweck komponierten zeitgenössischen Kompositionen gegenüberstellt. Es geht also nicht nur um eine Gegenüberstellung von Barock und Moderne, sondern darum, wie heutige Komponisten mit Bachs Musik umgehen und sie als Inspiration betrachten. Es versteht sich von selbst, dass einerseits die Komponisten keine inhaltlichen Vorgaben erhielten, man andererseits aber auch erwartete, dass sie Elemente des jeweiligen Brandenburgischen Konzerts in ihrer Komposition verarbeiteten, zitierten oder umwandelten.
Am 9. August gastierte das „Swedish Chamber Orchestra“ in der Basilika des Klosters Eberbach im „Brandenburg Project III“ mit dem 3. und 4. Konzert sowie den Kompositionen „Bach Materia“ des Schweden Anders Hillborg und „Aello – Ballet mécanomorphe“ der Österreicherin Olga Neuwirth.
Bachs 3. Brandenburgisches Konzert ist für drei Violinen, drei Violen, drei Celli sowie einen „Basso Continuo“ (Cembalo) geschrieben. Es gibt kein ausgeprägtes Solo-Instrument, obwohl vor allem die Violine immer wieder zu kurzen Soloausflügen ansetzt. Das „Swedish Chamber Orchestra“ mit dem Violinsolisten Pekka Kuusisto an der ersten Violine intonierte das Konzert vom ersten Takt an in einer erstaunlich dunklen Klangfarbe. Ob das an der Akustik der Basilika liegt, die hohe Frequenzen aufgrund der Raumhöhe schneller dämpft als tiefe, oder ob Thomas Dausgaard bewusst diese dunkle Klangfärbung wählte, lässt sich nicht beantworten, doch sorgten die Reflektionen – vor allem der tieferen Töne – an den Steinmauern der Basilika für einen verschwommenen Klang.
Den zweiten Satz – „Adagio“ überschrieben – hat Bach nur mit einem Takt und zwei Akkordangaben notiert. Die meisten Ensembles lassen diese „Überleitung“ daher einfach weg. Dausgaard jedoch hat seinem Solisten Pekka Kuusisto dieses Feld zur freien Improvisation überlassen, da ja auch Bach bekanntlich vieles der Improvisation der Musiker überlassen hat. Kuusisto zeigte bei seiner Improvisation ein ausgeprägtes Stilgefühl für Bachs Musik, ohne deswegen in barockes Spiel zu verfallen. Seine langgezogenen Streicherbögen atmeten durchaus die Tonalität der Moderne mit anderen harmonischen Folgen als im Barock, die Metrik hielt sich jedoch einerseits an die Tempobezeichnung „Adagio“ als auch an das eher langsame Schreiten der barocken und speziell Bachs Musik. Man merkte bereits bei den ersten Takten wegen der ungewohnten Tonfolgen auf, doch Kuusistos Spiel schuf eine kreative Spannung zwischen der gerade verklungenen Originalmusik Bachs und seinen eigenen Improvisationen. Puristen mögen anklagend den Begriff „Werktreue“ einwerfen, doch die Antwort lautet: „erlaubt ist was in sich stimmig ist“, und das war diese Verbindung von Barock und Moderne sicher. Der dritte Satz folgte dann bis zum Schluss Bachs Partitur, wobei hier die Klangfärbung etwas aufgehellt erschienen.
Für Anders Hillborgs „Bach Materia“ wurde das Orchester deutlich aufgestockt. In langsam anschwellenden Wellenbewegungen baute sich ein erstaunlich tonaler Klangteppich auf, der streckenweise ein wenig an Jean Sibelius erinnerte. Daraus entwickelte sich ein Violinen-Solo von Pekka Kuusisto, das sich zu einer Art Aufschrei steigerte und damit das Echo des Orchesters herausforderte. Die Basslinie dieser Komposition wirkte ähnlich ostinat wie im 3. Brandenburgischen Konzert, und an verschiedenen Stellen erschienen unverkennbar Zitate Bachscher Motive sowie Anklänge an die spezifische Metrik des 3. Konzerts. Bisweilen erinnerte die Metrik dann wieder an moderne „Latin“-Musik, was wohl auf die Herkunft Kuusistos aus dem Pop-Bereich zurückzuführen ist. Die langsamen Passagen erinnerten dann fast an Gustav Mahler, dann wieder waren Vogelstimmen zu vernehmen, und schließlich schälten sich auch – skandinavische? – Volksmusikelemente heraus. Besonders eindrucksvoll war auch das spannungsvolle Duett zwischen Violine und Bass, das den beiden Musikern offensichtlich viel Spaß bereitete. Die Komposition endete mit einem freien Solo der Violine, bei dem Pekka Kuusisto des Verzichts auf das Orchester alle Register der Klangerzeugung ziehen konnte.
Der zweite Teil begann mit der Interpretation des 4. Brandenburgischen Konzerts durch nun wieder ein kleines Orchester. Hier schien der Klang wesentlich heller und klarer, was auf eine bewusste Steuerung der Klangwirkung auch im ersten Teil schließen lässt. In diesem Konzert treten neben der Solo-Violine zwei Flöten in den Vordergrund. Da Bach dieses Konzert auskomponiert hatte, verzichtete Thomas Dausgaard auf jegliche Zusätze und servierte es „as is“.
Dafür begann dann Olga Neuwirths „Aello – Ballet mécanomorphe“ gleich mit einem Peitschenhieb. Die amerikanische Flötistin Claire Chase jagte ihr Instrument nach wenigen Takten in einem scharfen Glissando in höhere Lagen und ließ diese Klangvariante zum Markenzeichen der Komposition werden. Während sie an ihrem Solo-Instrument für die scharfen Ausbrüche zuständig war, blieben die beiden gestopften Trompeten akustisch eher im Hintergrund. Das lag wohl auch an dem hohen Intensitätspegel dieses Stücks, das leisere Töne schnell schluckte. Im Hintergrund setzte eine Schreibmaschine dem Begriff „mécanomorphe“ in reale Akustik um, doch auch die hörte man nicht immer. Auch hier war durchgehend die Metrik des 4. Brandenburgischen Konzerts zu vernehmen, hin und wieder erschienen sogar rudimentäre Elemente der Motive, um gleich wieder zu verschwinden. Dennoch – oder gerade deswegen – hatte man den Eindruck, die Partitur des Bachschen Konzertes über diese Komposition legen zu können, ohne größere Brüche zu erzeugen. Die lang gezogenen Klangbilder waren weitgehend von der Flöte bestimmt, wobei Claire Chase zum Schluss zur Bassflöte wechselte und damit noch einmal andere, tiefere Klangfarben einbrachte.
Diese Komposition traf einige Zuhörer offensichtlich unerwartet, denn in den kräftigen Abschlussbeifall mischten sich auch unüberhörbare „Buuh“-Rufe, die man nach dem ersten Teil nicht gehört hatte. Dem technischen Können der Musiker auf der Bühne können diese Missfallenskundgebungen nicht gegolten haben, denn das war perfekt. Teile des Publikums waren offensichtlich nicht auf den unverkennbaren Kontrast zwischen Bachs und Neuwirths Musik vorbereitet und damit irritiert. Doch das ist stets das Problem aller Grenzüberschreitungen, und dessen sind sich sicher sowohl das „Swedish Chamber Orchestra“ als auch das Rheingau Musik Festival bewusst.
Frank Raudszus
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