Die Theatersaison spielt sich vor allem im Herbst und Winter ab; im Frühjahr, wenn die Besucher zwischen lauschigen Biergarten- und anstrengenden Theaterabenden wählen können, stehen deshalb an vielen Theatern eher leichte Stücke wie Operetten und Musicals auf dem Programm. Das Staatstheater Darmstadt folgt diesem Trend durchaus, wenn auch die Wahl des Stücks – Bertold Brechts „Dreigroschenoper“ – eher erstaunt. Nun hätte man denken können, dass die Theaterleitung diesem Trend entgegenwirken wollte und das Darmstädter Publikum mit einer provokativen Inszenierung aus der frühsommerlichen Hitzetrance erwecken wollte. Doch weit gefehlt: was Regisseur Philip Tiedemann und das Ensemble anbieten, fällt eher in die Rubrik „Unterhaltung zum Saisonausklang“.
Brechts Paradestück, das eine Mischung aus politischem Schauspiel und frechem Gesang darstellt, nimmt die prekären sozialen Verhältnisse im London des 19. Jahrhunderts als Grundlage für eine beißende Gesellschaftskritik, die letztlich auf die Verhältnisse in der Weimarer Republik abzielt. Im Jahr 1928 schauten Brecht und das deutsche Volk auf ein Jahrzehnt gravierender gesellschaftlicher Umbrüche, sich zuspitzender wirtschaftlicher Probleme, galoppierender Armut und wachsender Kriminalität aller Couleur zurück. Die Bedeutung des sich aus diesem Sumpf nährenden Nationalsozialismus hatte man noch gar nicht erkannt. Die Lieder der „Dreigroschenoper“ thematisieren den täglichen Kampf ums Überleben und die Kriminalität als natürliche Konsequenz der unerträglichen Zustände.
Im Jahr 2018 stellen sich diese Probleme – zumindest in Deutschland – nicht mehr in dem gleichen Maße dar. Daher wecken die pointiert-satirischen Liednummern natürlich nicht mehr die spontane Zustimmung eines unter den Verhältnissen leidenden Publikums und können daher leicht zu reinen Revue-Nummern der „guten alten Zeit“ verkümmern. Um das zu verhindern, muss man dem Stück neue Perspektiven abgewinnen und in einer heutigen Inszenierung Bezüge finden, die dem Protestcharakter dieses Stücks eine aktuelle Bedeutung verleihen. In der Baseler Inszenierung hat Dany Levy deshalb eine Meta-Ebene eingezogen, in der Patienten einer Nervenklinik Brechts Oper als Therapie auf die Bühne bringen. Da diese Patienten durchweg zeitgenössische Wirtschaftsbosse sind, ergeben sich die Parallelen fast wie von selbst.
Philip Tiedemann hat sich in seiner Darmstädter Inszenierung jedoch für eine bruchlose Wiedergabe des Brechtschen Originals entschieden, deren Kostüme sogar streckenweise bewusst das 19. Jahrhundert zitieren. So tritt Hubert Schlemmer als Jonathan Peachum mit Zylinder und Gehrock auf, und Macheaths Spießgesellen tragen ähnliche Kostüme mit Bowlerhüten. Dadurch nimmt Brechts Stück zwangsläufig geradezu nostalgische Züge an, denn die wichtigsten Lieder aus dieser Oper haben sich im Laufe eines knappen Jahrhunderts längst verselbständigt und einen Kultcharakter jenseits aller unmittelbaren gesellschaftlichen Bedeutung angenommen. Abgesehen vom „Haifisch“-Lied gilt das beispielsweise von dem Lied „Nur wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm“, das heute durchaus auf gutmütige Zustimmung stoßen könnte. Und die Seeräuber-Jenny (Anna Böger) weckt mit ihrem eruptiven „Alle!“ nicht mehr die spontane Solidarität eines gleichermaßen leidenden Publikums, sondern höchstens Beifall für die gesangliche Interpretation.
Man hätte natürlich aktuelle Probleme wie Migration oder Parallelgesellschaften einflechten können, doch das erschien dem Regisseur offensichtlich zu riskant. So versucht er, dem Stück lediglich über gesangliche und darstellerische Mittel Tempo und Farbe zu verleihen. Das funktioniert jedoch einmal aus den bereits erwähnten Gründen nicht und dann auch deswegen, weil er auf jegliche expressionistisch-übersteigerte Darstellungen verzichtet. Zwar bemühen sich die Darsteller – Martin Bruchmann als Macheath, Hubert Schlemmer als Peachum, Katharina Abt als Celia Peachum und Louisa von Spies als Polly – die einzelnen Szenen durch Mimik, Gebärden und Gestik aufzuheizen, doch das verleiht diesen Szenen lediglich einen gewissen Slapstick-Humor, ohne die bitterböse Satire der Handlung zum Vorschein zu bringen.
Darüber hinaus bemühen sich die Darsteller durchweg, den bekannten Liedern dieser Oper ein nachdenkliches Flair zu verleihen. Ob dahinter die Absicht steht, Brechts unverstellt und direkt entlarvende Satire in eine höhere intellektuelle Distanz zu transformieren, sei dahingestellt. Die Wirkung auf das Publikum erschöpft sich jedenfalls in einer gewissen Beschaulichkeit, die den Texten weitgehend ihre ursprüngliche Schärfe nimmt. Dadurch gewinnt die Inszenierung genau die nostalgische Grundstimmung, die Gift ist für Brechts Stücke. Darüber hinaus zieht sich durch die gesamte Inszenierung eine Art szenischen Humors, der die Handlung als Streitigkeiten unter schrägen und kleinkriminellen Typen denunziert. Irgendwie gewinnt man alle die komischen Figuren, die sich hier miteinander zerstreiten, ob ihrer menschlichen Schwächen lieb – und das war wohl nicht Brechts Absicht.
Dabei kann man den einzelnen Darstellern keinen Vorwurf machen. Sie agieren im Rahmen der Inszenierung und ihrer Rollen durchaus mit Tempo und einigem Witz und spielen ihr schauspielerisches Können aus, doch leider kommt dabei kein typischer Brecht heraus, sondern eine Unterhaltung für die ganze Familie. Auch das Orchester unter der Leitung von Michael Nündel schließt sich diesem Trend an und spielt Kurt Weills Musik über weite Strecken mit einem angenehmen Sound, der auf scharfe Kontraste weitgehend verzichtet. Das klingt dann musikalisch richtig gut und passt auch zum Bühnengeschehen, vermeidet jedoch bewusst die für dieses Stück wichtige dissonante Schärfe, die bisweilen geradezu „falsch“ klingt und auch so klingen soll. Der Unterhaltungseffekt steht hier offensichtlich im Vordergrund.
Großen Teilen des Publikums im fast ausverkauften Großen Haus gefiel das offensichtlich, was sich am Ende in kräftigem Beifall zeigte.
Frank Raudszus
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