Beim 9. Kammerkonzert des Staatstheaters Darmstadt erzwangen logistische Schwierigkeiten eine kurzfristige Änderung des Programms. Da die beiden Solisten William Hagen (Violine) und Albert Cano Smith (Klavier) aus verschiedenen Gründen nicht pünktlich in Darmstadt eintreffen konnten, war eine Änderung des Ablaufs erforderlich, wollte man das Konzert nicht ganz absagen. Da es kurzfristig gelang, Marc Bouchkov von der „Kronberg Academy“ zu engagieren, konnte man das Duo – mit vermindertem Programm – in die zweite Hälfte verschieben.
Der Belgier Marc Bouchkov ist für die Darmstädter kein Unbekannter. Vielmehr scheint er für das Staatstheater eine Art „Feuerwehr“ zu sein, denn bereits im im Juli 2017 trat er in Darmstadt mit einem kurzfristig abgeänderten Programm in einem Duo statt in einem Trio auf. Nun also unterhielt er das etwas überraschte Publikum in der ersten Hälfte des Programms mit Darbietungen für „Violine Solo“ und zeigte dabei, dass er mehr als nur ein „Ersatz“ ist und einen ganzen Abend mit anspruchsvoller Musik füllen kann.
Er interpretierte zwei Violinsonaten des Belgiers Eugène Ysaÿe – op. 27 Nr. 5 und 6 – sowie Johann Sebastian Bachs Chaconne aus der Sonate für Violine Solo Nr. 2, die er bereits im Juli 2017 vorgetragen hatte. Ysaÿes Sonate Nr. 5 beginnt mit einer Kombination aus gestrichenen und gezupften Seiten, was fingertechnisch besondere Anforderungen stellt, da die gestrichenen Töne gleichmäßig und gebunden und die Pizzicato kurz und trocken klingen müssen. Das anfangs getragene Stück entwickelt später tänzerische Momente und besteht statt aus größeren, ausgeprägten Themen aus einzelnen Motiven und Figuren höchster Intensität. Um diese zu erzielen, verwendete der Komponist alle dynamischen und technischen Mittel, die wiederum vom Solisten höchste Fingerfertigkeit und musikalisches Gespür verlangen. Marc Bouchkov zeigte schon bei diesem ersten Stück seine hohen technischen und interpretatorischen Fähigkeiten. Mit Verve und Herz entlockte er seinem Instrument eine immer wieder überraschende Vielfalt und Intensität von Klangfarben und Emotionalität.
Johann Sebastian Bachs Chaconne ist einerseits von hoher Virtuosität, andererseits von einer klagenden, fast schwermütigen Grundstimmung geprägt. Das ausgedehnte Stück führt den Zuhörer durch emotionale Höhen und Tiefen, die aufgrund der voll ausgenutzten Ausdrucksbreite der Violine von hoher Intensität geprägt sind. Wie schon im letzten Sommer schlug Bouchkov das Publikum durch seine ganz persönliche, emotionale Interpretation dieser Chaconne in seinen Bann und erntete dafür besonderen Beifall.
Die zweite Violinsonate von Eugène Ysaÿe, op. 27 Nr. 6, ähnelt der ersten in vielen Aspekten, zeigt aber auch eigene Charakeristiken. Nach einem dramatischen Beginn mit ausgeprägten dynamischen Kontrasten flicht der Komponist Zitate aus anderen Musikkreisen ein: so erinnern die typisch spanischen Elemente an Bizets „Carmen“, dann wieder meint man, Teile eines bekannten Volkslieds zu hören oder musikalische Figuren aus der klassischen Musik zu erkennen. Doch sind diese Zitate jeweils so kurz, dass sie nie aufgesetzt oder gar aufdringlich wirken. Man hat das Gefühl, der Komponist habe hier mal seinem Humor freien Lauf gelassen. Dabei zieht er natürlich alle technischen und musikalischen Register, die der Solo-Violonist dann bedienen muss. Marc Bouchkov zeigte auch hier sein ausgefeiltes Können und präsentierte gerade diese musikalischen Anspielungen mit viel Lust an der Ausdeutung und dem Ausspielen. Der Beifall für diese kurzfristige „Aushilfe“ fiel derart kräftig aus, dass er noch eine Eigenkomposition als Zugabe spielte.
Im zweiten Teil trat dann das ursprünglich für diesen Abend engagierte Duo Hagen/Smith an und begann mit Johannes Brahms´ Sonate für Violine und Klavier d-Moll, op. 108. In gewisser Weise war auch dies eine Fortsetzung des Konzerts aus dem Juli 2017, als Marc Bouchkov mit seiner japanischen Begleiterin am Klavier Brahms´ Sonate op. 78 interpretiert hatten. Auch op. 108 ist geprägt von schmerzhaften, angespannten und zerrissenen Motiven, die man mit dem Begriff „sehnende Figuren“ umschreiben könnte. Die konzentrierte Innerlichkeit beherrscht bereits den ersten Satz und steigert sich noch einmal im Adagio des zweiten Satzes mit seinen lyrischen Ausflügen. Das Scherzo beginnt erstaunlich zart, ja fast fragil, steigert sich dann aber deutlich. Der stürmische Finalsatz erscheint dagegen wie ein eine auf und ab wogende Klangflut. Liedhafte Themen stehen hier – wie bei den meisten kammermusikalischen Werken Brahms´, nicht im Vordergrund, sondern die Intensität des emotionalen Ausdrucks, der die seelischen Nöte und Sehnsüchte des späten 19. Jahrhunderts zum Ausdruck bringt. Der Optimismus der Aufklärung in Haydns, Mozarts und auch Beethovens Kammermusik ist hier einer existenziellen Verunsicherung angesichts der rasant sich entwickelnden Industrialisierung gewichen.
Noch einen Schritt weiter in die Zukunft geht Igor Strawinsky mit seinem Divertimento für Violine und Klavier aus dem Jahr 1932. Lässt sich der Beginn noch als „fortgesetzter“ Brahms deuten, ändert sich der Duktus bald zu einer Vorherrschaft des Rhythmischen, wie wir es von „Sacre du Printemps“ kennen. Die melodische Figur tritt mehr und mehr in den Hintergrund, und die verbleibenden Motive und Figuren wechseln schnell mit dem sich laufend ändernden und dominierenden Rhythmus. Das markante Scherzo trägt fast humoristische Züge, während das abschließende „Pas de deux“ – das Stück ist aus einer Ballettmusik entstanden – wehmütig klagend beginnt und schließlich in einem wilden Presto endet.
William Hagen und Albert Cano Smith musizierten mit einer geradezu ansteckenden Freude und entlockten dieser rhythmisch anspruchsvollen Partitur immer neue Aspekte und Höhepunkte. Dabei zeigte sie nicht nur höchste Sicherheit im Zusammenspiel sondern auch eine konsequente Interpretation rhythmischen Raffinessen dieses Stücks. Kein Kontrast wurde gemildert, keine Steigerung gemildert. „Musik aus dem Vollen hieß“ die Devise, und das bei hoher Präzision und Transparenz.
Diesen Duktus nahmen die beiden auch in das letzte Stück mit, Franz Schuberts Rondo h-Moll op. 70. Es beginnt mit einem dramatischen Andante und geht dann in ein temperamentvolles Allegro über, das zum Schluss buchstäblich in eine wilde Jagd ausartet. Mit wahrer Lust am Ausschöpfen der klanglichen und dynamischen Mittel ihrer Instrumente gingen die beiden zu Werke und hauchten Schuberts Musik eine ausgeprägte Dynamik ein, wie man sie bei diesem Komponisten selten hört.
Das Publikum zeigte sich von diesem Auftritt derart angetan, dass die beiden noch zwei Zugaben spielten. Ein kurzes Stück von Fritz Kreisler (der auch auf dem ursprünglichen Programm gestanden hatte) und die „Sicilienne“ von Niccolo Paganini.
Frank Raudszus
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