Spätestens seit der Ära „Castorf“ an der Berliner Volksbühne gilt das klassische Theater mit seiner Betonung psychologischer und idealistischer Befindlichkeiten bei der selbst ernannten Avantgarde als Auslaufmodell. Psychologisierung bedeutet für sie bürgerliche Individualisierung, die nur ablenken soll von den Widersprüchen der kapitalistischen Klassengesellschaft und der damit einher gehenden Unterdrückung der arbeitenden Klasse. Schon Brecht hatte seinen Stücken die Empathie ausgetrieben, weil sie das schlechte Allgemeine zum bemitleidenswerten Einzelfall degradiere. Die Volksbühne hat dieses Brechtsche Dogma aufgenommen und eine Inszenierungstechnik der plakativen Darstellung gewählt, die auf jegliche Feinsinnigkeit verzichtet und die angeblich repressiven Verhältnisse laut und ohne den Hauch des Zweifels anprangert. Nicht die Ambivalenz der jeweiligen menschlichen Situation um Schuld und Unschuld, Täter und Opfer steht im Mittelpunkt, sondern die möglichst eindringliche Darstellung – und Anklage! – des Unerträglichen. Dieser Verzicht auf einen „konstruktiven“ gesellschaftlichen Entwurf zugunsten des empörten Protests funktioniert seit je solange gut, wie eine starke gegnerische Front – im Idealfall mit repressiven Mitteln – diesen Protest bekämpft. Lässt man diesem Theaterverständnis jedoch freien Lauf im Wettbewerb der Ideen, läuft sich das Protestgehabe leicht tot, vor allem, wenn die Zustände nicht so (schlimm) sind wie dargestellt. Das „alternative“ Theater à la Volksbühne setzt auf die „unterdrückte“ Klasse als Publikum und sucht sie zu agitieren, steht jedoch vor dem Dilemma, dass sein Publikum sich vornehmlich aus dem intellektuellen Lager rekrutiert, und rennt damit offene Türen ein, ohne wirklich neue Dinge auf die Bühne zu bringen.
All das konnte man zu Zeiten Frank Castorfs in der Berliner Volksbühne beobachten – und jetzt auch im Staatstheater Darmstadt. Christoph Mehler inszeniert Ödön von Horváths schwarzes Volksstück „Glaube, Liebe, Hoffnung“ in genau dem Stil, der sowohl die Repression wie auch die Empörung darüber lautstark intoniert und den einzelnen Menschen nicht als sensibles, zweifelndes Wesen, sondern entweder als Täter oder als Opfer darstellt.
Das beginnt schon bei Jennifer Hörrs Bühnenbild, das sich durch Nichtexistenz auszeichnet. Die Bühne des Kleinen Hauses ist bis zur Rückwand buchstäblich nackt, und Mehler lässt die wenigen Figuren bewusst den gesamten Raum nutzen, was zu großen Distanzen zwischen den Personen führt, vor allem, wenn er Herrschaftsverhältnisse vorführen will. Die einzige Requisite dieser Inszenierung ist buchstäblich Dauerregen, der von der ersten bis zur letzten Minute der Aufführung in drei Reihen vom Bühnenhimmel fällt.
Anabel Möbius muss die vom Schicksal gebeutelte Elisabeth während der gesamten Zeit unter diesem Wasserschleier spielen. Das hierfür vorgesehene durchsichtige Regencape verhindert natürlich nicht, dass Anabel Möbius bereits nach zehn Minuten völlig durchnässt ist, zumal sie sich des Öfteren mehr oder weniger verzweifelt in den Wasserlachen wälzt. Die metaphorische Bedeutung dieses Dauerregens ist dabei entweder kryptisch oder platt. Natürlich drängt sich die Redewendung „sie steht im Regen“ auf, was jedoch als Aussage etwas dürftig ist. Vor allem die Tatsache, dass auch die anderen Figuren – so der Präparator oder der Polizist – , die eher zu den „Tätern“ dieses Stücks gehören, sich durch Dauerregen und Wasserlachen quälen müssen, nimmt der regnerischen Leidensmetapher viel von ihrer Wirkung. Bei einer Aufführungsdauer von über neunzig Minuten (keine Pause) übt das Wasser schon bald keine repressive oder gar kathartische Wirkung mehr aus, sondern lässt eher die gequälte Frage aufkommen, wie die Darsteller diese Wasserschlacht ohne gesundheitliche Probleme überstehen können. Zwar treten sie – soweit sie sich in die Fluten stürzen müssen – in wasserabstoßenden Kostümen auf, diese können aber nur einen rudimentären Schutz bieten.
Mehler lässt Elizabeth buchstäblich allein im (gesellschaftlichen) Regen stehen. Der mitleidige Präparator (Jörg Zirnstein) und der verliebte Polizist (Daniel Scholz) leisten ihr dort zeitweilig Gesellschaft und setzen sich damit ebenfalls der metaphorischen Gefahr des Regens aus. Das ist bei dem Polizisten der drohende Karriereknick bei einer Liaison mit einer Vorbestraften; beim Präparator geht die metaphorische Rechnung jedoch nicht auf, wenn man das Gefühl, betrogen worden zu sein, nicht als solche auffasst. Die anderen Figuren, die mit Elisabeth direkt nichts zu tun haben (wollen!), bleiben denn auch schön am Rande der Regenwand. Gabriele Drechsel als Frau Prantl, Elisabeths zeitweilige Chefin, und Nicole Kersten als Frau Amtsgerichtsrat halten deutlichen Abstand und dienen nur mit „guten“ Ratschlägen, die angesichts von Elisabeths verzweifelter Lage nicht nur sinnlos sondern geradezu zynisch sind. Dazu treibt Christoph Bornmüllers Oberpräparator die Handlung gezielt in die finale Katastrophe, weil er eine grundsätzliche Abneigung gegen solche „asozialen“ Menschen wie Elisabeth hegt. Christian Klischat hat als Amtsgerichtsrat die undankbarste Rolle, da er einerseits eher als krumme Karikatur eines Richters und Ehemanns daherkommt und obendrein auch noch eine längere Rede im Adamskostüm halten muss, dessen Sinn – außer der Provokation – sich nicht erschließt.
Die anrührendste Szene findet zwischen Elisabeth und der jungen Maria (Katharina Hintzen) statt, die durch ihre knappe und eindeutig erotische Kleidung selbst als eindeutige(!) Außenseiterin gekennzeichnet ist. Mit unverstellter Ehrlichkeit beklagen beide die Ungerechtigkeiten des Lebens, wobei auf beiden Seiten sogar so etwas wie echtes, wenn auch unsentimentales Mitleid entsteht. Jede leidet mit der anderen mit, weil sie sich in ihr wiederfindet. Dagegen sieht der Polizist in Elisabeth nur einen vermeintlich leicht zu erringenden Ersatz für seine verstorbene Frau, und der Präparator gefällt sich in seiner herablassenden Großzügigkeit gegenüber dem armen Mädchen. Beide fühlen sich denn auch genau in dem Augenblick persönlich gekränkt, in dem Elisabeth eigene Interessen vertritt.
Den jungen Lebensretter, der Elisabeths Selbstmordversuch im ersten Anlauf verhindert, lässt Mehler nach seiner guten Tat in der Badehose drei Runden mit „Heil“-Rufen und erhobenem Arm um das Regenviereck mit der halb toten Elisabeth darin laufen. Dieser Hinweis auf den nahenden Nationalsozialismus wirkt jedoch wie ein dramaturgisch-pädagogischer Zeigefinger und dient weder dem Stück noch der Erziehung des Publikums.
Ödön von Horváth hat dieses Stück als Anklage gegen die sozialen Verhältnisse in den frühen dreißiger Jahre geschrieben. Dieser Ansatz kann für die aktuelle Inszenierung mangels schreiender sozialer Nöte keine entsprechende Wirkung beanspruchen. Es stellt sich dann die Frage, weshalb und wie man dieses Stück heute inszenieren kann. Dass es zum Kanon des 20. Jahrhunderts gehört, ist unbestritten, doch der empörte Aufschrei gegen die repressiven Verhältnisse verhallt mangels des notwendigen Echos. Vielleicht hätte man diese Inszenierung doch im Ambiente des frühen 20.Jahrhunderts ansiedeln und damit ein Stück Geschichtsaufarbeitung leisten können. So wirkt es trotz der durchweg engagierten Leistungen der Darsteller und deren Erduldung des Dauerregens angesichts seines deklamatorischen Thesencharakters ein wenig wie aus der Zeit gefallen.
Das schlug sich auch in der Reaktion des Publikums nieder: statt emotionaler Eruptionen ob der Ungerechtigkeiten freundlicher Beifall für die Darsteller.
Frank Raudszus
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