Thomas Wolfe, geboren 1930 in North Carolina und gestorben bereits 1983 an der Tuberkulose, war einer der letzten großen Romanciers, die noch in fast unverbrauchter Naivität das Pathos des täglichen Lebens pflegten. In seinem Roman „Schau heimwärts, Engel“ schildert er das Leben einer typischen amerikanischen Familie während der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert. Dabei nahm Wolfe ohne Bedenken starke Anleihen aus seinem eigenen Leben.
Selbst als letztes von acht Kindern geboren, spiegelt er diese Situation in seinem „Helden“ Eugene, den er nach einer epischen Darstellung seiner Eltern, deren Eltern und ihres jeweiligen Lebens erst relativ spät einführt. Schon Eugenes Großvater väterlicherseits führte ein unstetes Leben, war immer auf Reisen und wollte sich nicht niederlassen. Sein Vater Gant hat diese unsteten Gene geerbt, zieht durch die Staaten der USA, heiratet eine verkümmerte Frau mit etwas Vermögen, verliert Frau wie Vermögen und landet in Nord Carolina, wo er sich mehr schlecht als recht als Steinmetz durchschlägt. Dort lernt er die pragmatisch zupackende Eliza kennen und heiratet sie, obwohl ihm der aus seiner Sicht dünkelhafte Familienclan nicht besonders zusagt. Dabei projiziert er seine eigenen Minderwertigkeitsgefühle als erfolgloser Künstler, denn als solcher sieht er sich, in einen vermeintlichen Dünkel seines Schwiegervaters und der Schwäger. Gant selbst spürte schon früh einen Hang zur Literatur, besitzt eine für seinen gesellschaftlichen Stand ungewöhnlich breit gefächerte Bibliothek mit Werken von Shakespeare über Voltaire bis zu zeitgenössischen amerikanischen Dichtern und pflegt im nüchternen wie im trunkenen Zustand deren Werke zu zitieren.
Gant ist Choleriker und dem Alkohol verfallen, was sich in vierteljährlichen Sauftouren niederschlägt. Dann beschimpft er Gott und die Welt, vor allem aber seine Ehefrau Eliza, für ihre schnöde Diesseitigkeit und Gewinnsucht, kündigt allen ein böses Ende an und landet stets im weinerlichen Selbstmitleid. Eliza geht mit diesen Ausbrüchen pragmatisch um und lässt sie über sich ergehen, weil damals eine Scheidung aus gesellschaftlichen wie finanziellen Gründen kaum möglich war. Ihr Denken gilt dem Grundbesitz, und schon früh spart sie an allem, vor allem an Kleidung und Ausbildung der Kinder, nur um noch mehr Grundbesitz zu erwerben zwecks späteren Wohlstands und „Zugehörens“ zu den höheren gesellschaftlichen Schichten.
Eugenes ältere Geschwister decken die ganze Palette menschlicher Charaktere ab. Da ist seine Schwester Helen, die sich gerne für die anderen opfert und sich – ebenso gerne – darüber aufregt, dass niemand ihre Arbeit würdigt; da ist Steve, der älteste, der schon früh die Arbeit scheut und ein unstetes Leben führt, von einem Gelegenheitsjob zum nächsten wechselt, ewig unter Geldnot leidet und auch vor kleineren Betrügereien nicht zurückscheut; da sind die Zwillingsbrüder, von denen der eine schon mit zwölf Jahren an einer Infektion stirbt; und da ist Ben, Eugenes Mentor und Bezugsperson, der ihm immer wieder den Weg weist.
Schon früh interessiert sich Eugene für literarische und andere intellektuelle Themen, was weder bei seinen Eltern noch bei seinen Geschwistern Begeisterung weckt. Man unterstellt ihm Dünkel, den Hang, „etwas Besseres“ sein zu wollen, und eine Abneigung gegen anständige Arbeit. So lernt Eugene schon früh die Härte des Lebens als Zeitungsausträger kennen, muss täglich Quoten erfüllen und erfährt auch heftige Kritik, wenn er sie nicht erfüllt. Doch sein wacher Geist und sein Interesse an den Inhalten der Zeitungen helfen ihm nicht nur beim Zeitungsverkauf, sondern wecken auch das Interesse gebildeter Zeitungsleser an ihm. So darf er – trotz der Skepsis seiner praktisch orientierten und auf den Penny achtenden Mutter – auf Drängen eines Lehrers erst eine höhere Schule besuchen und dann sogar studieren.
Diese Entwicklung und die verschiedenen Lebensstationen erinnern immer wieder an Wolfes eigenes Leben, wobei er allerdings biographische Analogien frei mit fiktiven Personen mischt. Man sollte sich also davor hüten, in jeder Person – vor allem in Eltern und Geschwistern – direkte Abbilder seiner eigenen Familie oder von Freunden zu sehen. Wolfe bedient sich dabei eines ausufernden, epischen Stils, der kleinste familiäre Verhältnisse, Ereignisse oder Befindlichkeiten in einer kraftvollen, in weiten Bögen mäandernden Sprache beschreibt. Dabei wiederholt er sich auch oft und bewusst, um bestimmte Verhaltensweisen und Charaktere dadurch umso eindringlicher darzustellen. Dauerthemen sind gleichermaßen die alkoholischen Exzesse seines Vaters wie der fast schon krankhafte Erwerbstrieb seiner Mutter. Auch die unterschiedlichen Charaktereigenschaften seiner Geschwister sowie der engeren und weiteren Verwandschaft werden mit kleineren oder größeren Variationen und in immer neuen Situationen eingehend beschrieben. In diesem Roman tauchen mittendrin völlig neue Personen auf, begleiten Eugene und die Leser für einige Kapitel und verschwinden dann wieder für neue Protagonisten.
So entsteht im Laufe der sich fast endlos hinziehenden Kapitel ein weites Panorama menschlicher Typen, wie sie typisch waren für das ländliche und kleinstädtische Leben in der amerikanischen Provinz des frühen 20. Jahrhunderts. Nebenbei erlebt der Leser auch die technische Entwicklung mit Auto, Eisenbahn, Radio und anderen Neuerungen mit, ohne dass Wolfe die entstehende Technisierung des Lebens zu einem ideologischen Thema macht. Überhaupt ist Ideologie nicht seine Sache. Er beschreibt die Welt und die Menschen, wie sie sind, und billigt jedem, auch dem verlorensten Menschen, noch seine Würde und sein Existenzrecht zu, ohne ihn umerziehen zu wollen. Man könnte durchaus sagen, dass Thomas Wolfe die Menschen liebt, obwohl er im Einzelfall wenig Gutes über sie berichtet.
In diesem Roman gibt es keine übliche Struktur à la Voraussetzungen, Konflikte und Lösung mit einer entsprechenden weltanschaulichen Aussage; hier erscheint die Welt als eine unübersehbare, nicht nach festen Regeln organisierte Vielzahl menschlicher Beziehungen, Sehnsüchte und Schwächen, die sich dem Betrachter so präsentiert, wie sie ist, und keinen Schrei nach Veränderung äußert. Dass die Verhältnisse in vielen Fällen unerträglich und ungerecht sind, ist dem Autor klar, aber er weigert sich, eine Theorie der Veränderung oder gar deren Praxis zu predigen. Wenn man so will, ist Eugenes Drang nach Bildung der einzige Ausweg und gleichzeitig ein Appell an die Welt der Leser.
Der Verlag hat Mut bewiesen, indem er eine ungekürzte Version des Romans veröffentlicht hat, denn dies ist bei umfangreichen Romanen nicht die übliche Praxis. Doch dem Sprecher Matthias Ponnier gelingt es, den Figuren dieses Romans und den vielfältig sich wiederholenden Situationen ein so individuelles Leben einzuhauchen, dass die Zeit des Zuhörens nicht lang wird. Allerdings sollte man sich für dieses Hörbuch viel Zeit und Muße nehmen, denn es fordert viel Geduld und Aufmerksamkeit.
Das Hörbuch ist im Audio-Verlag erschienen, umfasst zwei MP3-CDs mit einer Gesamtlaufzeit von nahezu 22 (!) Stunden und kostet 10 Euro.
Frank Raudszus
No comments yet.