Diese Rezension basiert nicht auf dem Besuch einer öffentlichen Konzertaufführung, sondern auf der Generalprobe am Tage vor dem Konzert. Das ermöglichte, die Musiker einmal ohne „offizielle“ Öffentlichkeit bei der Arbeit zu besuchen. Einschließlich des jungen Dirigenten erschienen sie in lockerer Alltagskleidung – Jeans und Hemd – und wirkten wesentlich lockerer als bei der öffentlichen Aufführung. Das bedeutete jedoch keineswegs, dass sie an diesem Vormittag die Musik nicht ernst nahmen. Der Unterschied bestand außer in der lockeren Atmosphäre darin, dass sich immer wieder Gespräche und kurze Diskussionen zwischen Dirigent und Orchester ergaben – schließlich war es eine Probe. Dabei fiel das gute, fast kameradschaftliche Verhältnis zwischen dem Dirigenten und den Orchestermusikern auf. Schließlich war Simon Gaudenz als Gast kurzfristig für den erkrankten chinesischen Dirigenten eingesprungen und musste innerhalb einer Woche das Programm einstudieren.
Dabei ergab sich noch ein weiteres Problem: die ursprünglich als Abschluss vorgesehene Sinfonie von Ralph Vaughan Williams gilt als derartig schwierig, dass sich Simon Gaudenz nicht in der Lage sah, sie in der verbliebenen Zeit einzustudieren. So entschied man sich, stattdessen Felix Mendelssohn-Bartholdys 3. Sinfonie in a-Moll, die „Schottische“, zu spielen. Für das Orchester bedeutete das einen Schwenk in letzter Minute nach bereits intensiver Beschäftigung mit dem ursprünglich geplanten Werk. Es spricht für die Qualität des Orchesters, dass sie den geänderten Programmpunkt ohne Qualitätseinbußen quasi „vom Blatt“ spielten.
Doch am Anfang standen zwei Suiten und eine Ouvertüre aus Georg Friedrich Händels „Wassermusik“ resp. „Feuerwerksmusik“. Hier fiel Gaudenz´ filigrane Kleinarbeit an Intonation und Phrasierung einzelner Passagen auf. Dabei ging es ihm um die Betonung und den „Schwung“ einzelner musikalischer Figuren, die dann auch nach mehrmaliger Wiederholung die gewünschte Form annahmen, weil die Orchestermusiker die klanglichen Anregungen bereitwillig aufnahmen. Für die Besucher der Generalprobe eröffnete dies einen Einblick in die Arbeit eines Orchesters und in die Detailtiefe der Interpretation. Der Gesamteindruck litt jedoch unter dieser Detailarbeit nicht, weil Gaudenz damit erst nach einem vollständigen Durchgang begann.
Im Mittelpunkt des Konzerts stand das Violinkonzert von William Walton, das dieser im Jahr 1939 für Jascha Haifetz schrieb. Als Solist fungierte Wilken Rank, erster Kapellmeister am Staatstheater Darmstadt. Die von Walton kolportierte Befürchtung, das Stück sei nicht virtuos genug, mutet dabei ausgesprochen seltsam an, denn dieses Konzert enthält eine ganze Reihe technisch und musikalisch hoch anspruchsvoller Passagen, die jeden Violonisten herausfordern. Wilken Rank zeigte sich diesen Anforderungen mehr als gewachsen und bewältigte alle Schwierigkeit mit Souveränität und scheinbarer Leichtigkeit. Nur Musiker wissen, welche Arbeit hinter dieser Leichtigkeit steckt.
Waltons Violinkonzert mutet für den Entstehungszeitraum erstaunlich traditionell an und ließe sich ohne Probleme auch in der Hochromantik des späten 19. Jahrhunderts verorten. Vor allem das elegische Andante des Kopfsatzes erinnert an vergleichbare Konzerte der vorletzten Jahrhundertwende. Dagegen zeigen sich im zweiten und dritten Satz typische amerikanische Klangfarben und Rhythmen, die vor allem an Leonard Bernstein erinnern. Da die beiden Komponisten nur sechzehn Jahre trennten, dürften sie sich gekannt haben, und vielleicht hat Bernstein sogar einige Anregungen von Walton mitgenommen.
Bei diesem Werk ging Dirigent Gaudenz noch wesentlich tiefer ins interpretatorische Detail, weil es hier um das stets besonders heikle Zusammenwirken zwischen Orchester und Solist geht. Begleitstrukturen in den Celli oder den Bläsern wurden immer wieder verändert, wobei der Zuhörer einen guten Eindruck von den Intentionen des Dirigenten gewann sowie den Fähigkeiten der Orchestermusiker, diese überzeugend umzusetzen. So wurden einzelne Passagen des Zusammenspiels mehrere Male wiederholt, wobei es auch kurze Diskussionen gab, die jedoch stets ausgesprochen konstruktiv und sachlich wirkten. Auch Solist Wilken Rank musste dabei aus dem Stand kurze, aus dem Zusammenhang des Gesamtwerks gerissene Passagen mehrere Male wiederholen, was jedes Mal höchste Konzentration erforderte. Doch auch hier stand ein vollständiger Durchgang im Vordergrund, und die Feinarbeit erfolgte anschließend. Auf diese Weise kamen die Proben-Besucher in den Genuss eines vollständigen Konzerts.
Letzteres war dann bei Mendelssohns „Schottischer“ Sinfonie in gesteigertem Maße der Fall. Gaudenz ließ das ganze Werk wie bei einer öffentlichen Aufführung ohne Unterbrechung durchspielen. Dabei wirkte es wie aus einem Guss. Ob diese „Perfektion“ der Grund war, nicht zu unterbrechen, oder ob er Verbesserung anschließend anbringen wollte, ist dem Rezensenten nicht bekannt, da er nach dem Schlussakkord den Konzertsaal verließ. Nehmen wir an, das Dirigent und Orchester (zu Recht) mit dieser Aufführung zufrieden waren. Sie präsentierten das Werk in ausgesprochen frischer Art und mit hoher Präzision. Das Adagio des dritten Satzes wirkte dabei besonders präsent, fast mächtig, was jedoch nicht bedeutet, dass die anderen Sätze dagegen abfielen.
Applaus gibt es bei Generalproben natürlich prinzipiell nicht, da das Publikum offiziell nicht anwesend ist.
Frank Raudszus
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