Die Künstliche Intelligenz – im Volksmund eher unter dem Begriff „Roboter“ subsumiert – ist seit einiger Zeit eines der wichtigsten Diskussionsthemen und weckt vor allem bei Intellektuellen eher die Befürchtung einer systematischen Selbstentmachtung des Menschen. Hier ist nicht der Ort, die Risiken und Chancen der Künstlichen Intelligenz zu diskutieren, doch das Staatstheater Darmstadt hat das Thema als Anlass für die Uraufführung der Kammeroper „EvE & ADINN“ im Rahmen des Programms „CODE“ genommen Die israelische Komponistin und Performerin Sivan Cohen Elias hat sich in der Vergangenheit intensiv mit den unterschiedlichsten künstlerischen Darstellungsformen beschäftigt und einige davon in dieser Kammeroper verdichtet.
Die Handlung lässt sich ohne die vorherige Lektüre des Programmhefts kaum verstehen. Zu komplex ist das Handlungsgefüge und zu fragmentarisch sind die vorgetragenen Texte. Somit kann das Stück nicht der oftmals geäußerten Forderung genügen, aus sich selbst heraus verstehen sein zu müssen. Damit ist jedoch nicht vorab die Qualität eines Stückes in Frage gestellt, da sich, ausgehend von der Thematik, durchaus dramaturgische Ausnahmesituationen denken lassen. Das ist bei „EvE & ADINN“ zweifellos der Fall, denn hier geht es um die logisch komplexe, bisweilen nicht beantwortbare Frage von Bewusstsein und (maschineller) Intelligenz.
Dr. Green, der Leiter eines fiktiven Intelligenzlabors, hat eine Maschine namens ADINN (Advanced Deep Intelligence Neural Network) entwickelt, die sich die Fähigkeit angeeignet hat, ihren eigenen Quellcode zu ändern, und sich dadurch tendenziell der Kontrolle seiner Entwickler entzogen hat. Eingesperrt in eine „intelligente Box“, die wie ein überdimensioniertes Smartphone auf der Bühne steht, harrt sie der Entschlüsselung ihrer gefährlichen Fähigkeiten. Dazu hat man einen zweiten Roboter namens EvE in menschlicher Gestalt entwickelt, ihm die Überzeugung mitgegeben, ein Mensch zu sein, sowie die Aufgabe, die Gedankengänge von ADINN nachzuvollziehen. Hier liegt bereits ein logischer Widerspruch: warum muss sich die zweite Maschine für einen Menschen halten, wenn schon die echten Menschen ihr Geschöpf ADINN nicht mehr verstehen? Für die Bühne allerdings ergibt sich mit dieser Voraussetzung die Möglichkeit, eine „menschliche“ Maschine in Gestalt eines Menschen und damit alle damit zusammenhängenden Assoziationen auf die Bühne zu bringen.
Die fortlaufende Entwicklung von EvEs Fähigkeiten erfolgt durch einen geradezu archetypischen „Ingenieur“, der am Rande der Bühne als eine Art Zauberer à la „Herr der Ringe“ mit verschiedenen Töpfen und Geräten hantiert, die als Metaphern für physikalisch-chemische Forschung dienen. Diese metaphorische Zauberei am Bühnenrand setzt sich fort in ADINNs geheimnisvoller Smartphone-Box, die mit einem paradiesischen Gärtchen angefüllt ist, in dessen Mitte ein praller, rotbäckiger Apfel prangt. Der weibliche Roboter EvE – eine weitere unübersehbare Metapher – kreist verbal und physisch um eben diese Box mit dem Apfel. Damit ist die Aussage des Stücks auch dem letzten Zuschauer klar: Die Künstliche Intelligenz kreist in enger werdenden Spiralen um den „Apfel“ der ultimativen Erkenntnis und könnte durch den (unerlaubten?) Griff nach dem gefährlichen Obst die Vertreibung des Menschen aus seinem eigenen Dasein – sprich: Paradies – bewirken.
Doch Sivan Cohen Elias geht es nicht um vordergründige Kritik oder gar Polemik an und über die Künstliche Intelligenz, sondern viel mehr um die unergründete – und unergründliche? – Zwischenwelt zwischen menschlichem – intelligentem – Bewusstsein und einer höheren, vom Menschen losgelösten Intelligenz. Wo stehen wir, und wohin geht die Zukunft? Nicht kurzfristige arbeitsrechtliche oder politische Folgen stehen in diesem Stück auf dem Programm sondern der Stellenwert des Welt- und Selbstverständnisses an sich. Damit bewegt sie sich auf dem dünnen Eis einer fundamentalen Fragestellung, die keine schnelle und schlüssige Antwort kennt.
Diese Situation setzt Sivan Cohen Elias überzeugend durch Sprache und Musik um. Im Mittelpunkt steht die Sängerin Aki Hashimoto als EvE, durch eine blonde Barbie-Perücke und weiße Kontaktlinsen als Kunstprodukt gekennzeichnet. Sie lernt im Laufe der Aufführung erst Laute, dann Worte und schließlich Sätze und durchläuft im szenischen Zeitraffer den Lernprozess einer selbstlernenden Maschine. Die Wort- und Satzfragmente erscheinen – wie bei einer italienischen Oper – auf einem Übertitelungsschirm, entfalten dort jedoch keinen szenischen „Sinn“, sondern zeigen nur den jeweiligen Lernfortschritt der Maschine EvE. Dazu bewegt sie sich in ebenfalls anfangs rudimentären, dann zunehmend sichereren Schritten auf der Bühne.
Die Bühne selbst ist als „Labor“-Halbrund aus senkrechten Stoffstreifen gestaltet, durch deren Zwischenräume das Laborpersonal – dargestellt durch drei Sängerinnen (Margaret Rose Koenn, Gundula Schulte, Anja Bildstein) und einen Sänger (Volker Werner Meyer) – EvE überwacht und steuert. Hinter der Bühne ist das Orchester des Staatstheaters platziert, das unter der Leitung von Johannes Harneit die Geräuschkulisse für diese Inszenierung erzeugt. Von „Musik“ zu reden, wäre hier fehl am Platze, denn es handelt sich um durchgehend um akustische Ereignisse, wie man sie sich in einem elektronischen Umfeld vorstellt. Auch im Theater geistert noch die Vorstellung aus der Frühzeit des Computerzeitalters, ein Computer müsse Pfeif- und Piepsgeräusche von sich geben. Da man jedoch das tatsächliche – intrinsische – Schweigen eines heutigen Computers akustisch nicht darstellen kann, ist die Imagination elektronischer Geräusche nachvollziehbar. Dabei hat die Komponistin die Zwischenwelt zwischen realer und virtueller Realität musikalisch unter anderem dadurch dargestellt, dass sie vermeintliche elektronische Töne durch analoge Musikinstrumente und vermeintliche Instrumentenklänge elektronisch nachbilden lässt. Vexierspiel der sinnlichen Eindrücke und intellektueller Erkenntnisse.
David Pichlmaier leiht nicht nur ADINN seine Stimme, wenn dieser etwas Kryptisches von sich gibt, sondern spielt auch den Dr. Green, der in dieser Inszenierung mit seinem wild gemusterten Jackett und seiner kühlen Intelligenz ein wenig zwischen Einstein und Frankenstein angesiedelt ist. Die drei Sängerinnen und der Sänger begleiten die Laborversuche mit EvE mit entsprechenden menschlichen Tönen, jedoch ohne textliche Ausprägungen, und ergänzen ihre gesanglichen Auftritte mit einer unterkühlten Darstellung des Laborpersonals.
Eine „Moral“ liefert diese Inszenierung am Ende der reduzierten Handlung auch noch. Wenn EvE am Ende tatsächlich nach dem Apfel greift, schaltet das Laborpersonal die Aggregate ab und steht etwas betreten um den in sich zusammengesunkenen Körper des weiblichen Roboters herum.
Man hätte es an diesem Abend mit dieser etwas mehr als eine Stunde dauernden Einakters bewenden sein lassen können, und das wäre wegen der Dichte und Komplexität sicher auch die bessere Entscheidung gewesen. So jedoch hat man mit Ramon Johns Choreographie „Love Radioactive. Eidolons Beginning“ noch einen zweiten Teil hinzugefügt, der sich auf eine rein tänzerische Darbietung zu Akustik- und Video-Einspielungen beschränkt. Dieser Teil baut auf eine Kurz-Choreographie auf, die Ramon John bereits im letzten Jahr unter dem Titel „Startbahn 2017“ gezeigt hat. Dabei geht es um das Verhalten von Menschen vor und nach Katastrophen, kurz: in apokalyptischen Zuständen. Anfangs sieht man eine größere Gruppe von Menschen, die deutliche Zeichen psychischen Stresses zeigen und auf einer abgedunkelten Bühne unter der Führung eines selbsternannten Anführers geduckt und angsterfüllt durch eine gefährliche Welt huschen. Dann führt aufkeimende Hoffnung zu befreiteren, aber stets vorsichtigen Bewegungen.
Eine erzählerische Struktur ist dieser Choreographie kaum zu entnehmen, der Schwerpunkt verharrt auf den seelischen Befindlichkeiten angesichts großer Bedrohungen. Video-Fragmente, ja -Fetzen von Gewalt, Leid und Not, doch bewusst ohne nötigende und aufdringliche Direktheit, schaffen den äußeren Rahmen dieser seelischen Grenzsituationen. Am Ende überleben drei Personen: ein Paar, das sich langsam aneinander und an eine grundlegend geänderte Situation ohne Überlebensgarantie gewöhnen muss, und eine geheimnisvolle „Meta-Person“ mit maskiertem Gesicht und weißem Gewand, die man je nach Neigung als metaphorischen Rache- oder Schutzengel interpretieren kann. Diese Person tritt auch nicht in direkten Kontakt mit dem überlebenden Paar, sondern begleitet es im Hintergrund.
Bestechend an dieser Produktion sind die Paarkonfigurationen, sei es das erwähnte Paar zum Schluss oder ein Paar aus zwei aneinander geketteten Frauen, die sich umeinander winden und sich nicht voneinander lösen können. Immer wieder entwickeln sich Szenen höchster tänzerischer Konzentration und Verdichtung, die der Choreographie Höhepunkte und Tiefe verleihen. Allein dieser Szenen wegen wäre ein eigener Tanzabend ohne die problematische Überschneidung mit „EvE & ADINN“ die bessere Lösung gewesen. So aber musste das von dem ersten Stück schon stark geforderte Publikum noch eine weitere Stunde in diesem fast dreistündigen Programm Aufmerksamkeit und Konzentration aufbringen.
Kräftiger und ausdauernder Beifall belohnte die Tanztruppe zu später Stunde.
Frank Raudszus
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