Jean-Baptistes Komödie „Der Menschenfeind“ wird diese Gattungsbezeichnung gerne abgesprochen, da sowohl der Text als auch die Handlung eher auf eine bitterböse Satire hinweisen. Fasst man den Komödienbegriff jedoch weiter bis hin zur satirischen groteske, so stimmt er auch für dieses Stück. In Darmstadt hat man es zuletzt im Jahr 2009 in der Inszenierung von Michael Helle gesehen; nun hat sich die Regisseurin Marie Viktoria Linke dieses Stoffes angenommen und ihn im Staatstheater Darmstadt auf die Bühne gebracht.
Wie so manche der Komödien Molières weist auch „Der Menschenfeind“ keine klassische Handlungsstruktur im Sinne von „Konflikt und Lösung“ auf, sondern beschreibt auf eher statische Weise gegebene gesellschaftliche Verhältnisse aus immer neuen Perspektiven. Dazu setzt Molière eine minimale Handlungsstruktur auf, die er mittels der zu seinen Zeiten beliebten Methode des Briefes soweit vorantreibt, dass er neue Seiten der handelnden Personen zeigen kann. Die Handlung spielt in einem eher bürgerlichen Milieu, das der Autor jedoch nicht näher ausmalt. Statt einzelne gesellschaftliche Gruppen wie den Hof, den Adel oder das Großbürgertum bloßzustellen, beschreibt er einzelne Typen auf derart satirisch zugespitzte Weise, dass die zeitgenössischen Zuschauer leicht die entsprechenden Zuordnungen treffen konnten.
Im Mittelpunkt steht der radikal-moralische Alceste, der stets seine Meinung sagt, jeden Kompromiss ablehnt und selbst vor Gericht in geradezu naiv-selbstherrlichem Vertrauen seine selbstgesetzte Rechtsposition auf Rechtsrat und Beeinflussung verzichtet. Auch im privaten Bereich lehnt er Höflichkeit und Komplimente als Lügen ab. Selbst sein pragmatischer Freund Philinte kann ihn um keinen Millimeter von seiner Position abbringen. Das Problem ist nur, dass er unsterblich in Célimène verliebt ist, die als schöne, junge Witwe alle Eigenschaften der oberflächlichen, hedonistischen und – zumindest in Alcestes Augen – heuchlerischen Gesellschaft in sich vereinigt. Er konkurriert nicht nur mit dem Dichter Oronte, sondern auch mit den Höflingen Acaste und Clitandre um Célimènes Gunst. Molière schildert in ausufernden Versen Alcestes inneren und äußeren Kampf um seine Selbstachtung und die Liebe der Frau und zieht dabei sämtliche psychologischen Register des Stolzes, der Eifersucht und des verletzten Stolzes. In erotischen Nebenhandlungen sind Célimènes Cousine Èliante, die bigott-prüde Arsinoë und der bereits erwähnte Philinte eingebunden. Am Ende findet – vorwiegend aus falschem oder echtem Stolz – entgegen allen Komödienregeln kein Paar zueinander.
Marie Viktoria Linke hat das stetige Kreisen um Neid, falschen Stolz, Selbstüberhebung und moralischen Maximalismus offensichtlich als satirische Groteske aufgefasst und entsprechend inszeniert. Dazu bedient sie sich einer modernden Übersetzung von Jürgen Gosch und Wolfgang Wiens, die zwar die alexandrinische Versstruktur weitgehend erhält, sie jedoch mit modernder Sprache füllt. Bei entsprechender Intonation ergeben sich Dialoge, die an Yasmina Rezas Gesellschaftssatiren erinnern, vor allem, da auch diese typische menschliche Charakterschwächen aufs Korn nehmen. Das Bühnenbild von Wolfgang Menardi besteht aus mehreren vertikal gegeneinander verschiebbaren Stufenanordnungen, die in einem zentralen, an ein Variété erinnernden Portal an der Bühnenrückseite ihren Fluchtpunkt finden. Mitten in dieser Variété-Bühne steht ein großer weißer Pfau, der sich in unübersehbarer Metaphorik aufbläht. Von dort her tritt auch die umschwärmte Célimène wie ein Showstar auf und genießt diese Rolle sichtlich. Die senkrechten Bewegungen der einzelnen Bühnenteile verstärken dabei den Eindruck der Unerreichbarkeit Célimènes für ihre Verehrer. So stellt Alceste einmal eine Stehleiter an, um die oben postierte Célimène zu erreichen, nur um Augenblicks später allein in der leeren Höhe der Bühne zu stehen.
Ines Burisch hat die Darsteller in Kostüme gekleidet, die zwischen modisch-affektiert und bewusst alternativ changieren und auf jegliche historischen verweise verzichten.
Alceste (Christoph Bornmüller) ist in dieser Inszenierung ein radikal-cholerischer Ideologe der „Wahrheit“ – was immer er darunter versteht. Er erinnert mit seinem exaltiert-rebellischem Gestus, seiner olivfarbenen Kampfmontur sowie seiner wilden Haar- und Barttracht frappierend an dogmatische APO-Mitglieder der späten sechziger Jahre. Seine pauschalen Tiraden über die ausnahmslose Schlechtigkeit der Welt fügen sich in dieses Bild nahtlos ein. Célimène (Jessica Higgins) kommt dagegen als emanzipierte Frau mit sehr eigenen Vorstellungen über das Leben und die Liebe daher. Erst langsam kommt man ihr dahinter, dass sie in ihren Briefen an ihre Verehrer mit allen spielt. Ihr Kostüm – weite rote Festrobe – weist sie als Diva aus, die es sich leisten kann, die Puppen – sprich: die Verehrer – tanzen zu lassen. Oronte (Christian Klischat) ist ein noch halbwegs ernst zu nehmender Pseudo-Dichter, während Acaste (Jörg Zirnstein) und Clitandre (Béla Milan Uhrlau) in satirischer Überzeichnung als eitel-dumme bis dreiste Höflinge angelegt sind. Èliante (Katharina Hintzen) tritt hier als „uneigentliche“ Mädchen-Puppe mit abgezirkelten Bewegungen und blutleeren Texten auf, die in vergeblicher Hoffnung auf Alcestes Liebe vor sich hinstarrt.
Die Musik zu dieser Inszenierung – ein gelungener Regieeinfall – stammt von dem Pianisten Johannes Mittl, der im Hintergrund auf dem Klavier Beethovens „Elise“ mit Pop und Jazz-Klassikern mischt und auch einmal die Bewegungen der Darsteller mit improvisierten Akkorden begleitet. Auch er muss sich von dem cholerischen Alceste Beschimpfungen über das „blöde Geklimper“ samt fingergefährdendem Zuschlagen des Klavierdeckels gefallen lassen.
Der größte Wert dieser Inszenierung liegt in den Texten, die sowohl vom Vokabular als auch vom Satzbau an moderne Theaterdialoge à la Yasmina Reza erinnert. Ein Wunder, dass die beiden Textautoren dies auch noch in Alexandriner fassen und dabei den heutigen „Jargon“ beibehalten konnten. Wenn sich etwa Alceste und Célimène um Liebe, Eifersucht und Wahrhaftigkeit fetzen, dann könnte das aus einer aktuellen Beziehungssatire stammen. Man vergisst dabei fast, dass sich die Sätze in einem vorgegebenen Versmaß bewegen und auch noch reimen.
Diese Texte müssen natürlich auch enstprechend präsentiert werden. Das gelingt den Darstellern über weite Strecken so gut, dass der Spannungsbogen kaum abreißt. Nur in der Mitte der der knapp zwei Stunden (ohne Pause) dauernden Aufführung entsteht eine etwa viertelstündige Durststrecke, in der wenig geschieht und die Darsteller den Eindruck einer gewissen Ermüdung vermitteln. Doch zum Ende hin steigern sich sowohl die Handlung als auch die Darsteller wieder und sorgen wieder für eine dichte, straffe Atmosphäre. Christoph Bornmüller leistet als beratungsresistenter Choleriker und Selbstzerstörer geradezu Schwerstarbeit und verleiht dem Alceste überzeugende und kompromisslose Konturen. Jessica Higgins wandelt sicher auf dem schmalen Grat zwischen den Abgründen einer eiskalten Spielerin mit den Emotionen und einer hilflosen Frau zwischen konkurrierenden Verehrern. Sie leistet mit ihrer psychologisch feinnervigen Darstellung dieser ambivalenten Figur einen Beitrag zur Emanzipation der Frau, indem sie dieser Figur die potentielle Plattheit nimmt. Christian Klischat gibt den Oronte als aufbrausend-beleidigtes Möchtegern-Genie; Jörg Zirnstein und Béla Milan Uhrlau geben zwei zickig-affektierte Karikaturen von Höflingen ab. Katharina Hintzen spielt das brav-biedere „Püppchen“ Èliante mit Humor, kann aber ihre sonstigen schauspielerischen Fähigkeiten hier nicht ausspielen, und Gabriele Drechsel verleiht der intriganten Arsinoë die Fassade einer bigotten Heuchlerin.
Diese Inszenierung des barocken Klassikers kann man als erfolgreiche Auffrischung bezeichnen, zumal sie Molières Auslassungen über die Bösartigkeiten der Menschen auf gekonnte Weise aktualisiert. Das Publikum sah das auch so und applaudierte kräftig.
Frank Raudszus
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