Laurenz Lütteken: „Mozart – Leben und Musik im Zeitalter der Aufklärung“

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Über Wolfgang Amadeus Mozart sind im Laufe der letzten zwei Jahrhunderte unzählige Biographien erschienen, von gefühligen „Wolferl“-Anekdoten über die „Bäsle-Briefe“ und musikalische Werkanalysen bis hin zu literarischer Bearbeitung. Da stellt sich natürlich die Frage, ob denn im Jahr 2017 noch eine weitere Mozart-Biographie nötig und erkenntnisreich sein kann. Um es gleich vorweg zu sagen: es gibt tatsächlich noch Aspekte und Zusammenhänge, die so bisher in der Literatur nicht analysiert und dargestellt worden sind, und Laurenz Lütteken hat mit diesem Buch eine völlig neue Mozart-Perspektive eröffnet, deren Lektüre sich mehr als lohnt, ja, die eigentlich für ein vollständiges Mozart-Bild unverzichtbar ist.

Lütteken geht in seinem Buch zwar prinzipiell chronologisch vor, doch geht es ihm dabei nicht um die einzelnen Stadien und Erfahrungen des kindlichen, jugendlichen und erwachsenen Mozart und schon gar nicht um seine – eventuell! – „verlorene“ Kindheit (was ein anderes Thema wäre). Er untersucht die jeweilige Stellung Mozarts in der Welt und  deren Reaktion auf ihn. Dabei spiegelt er alles gegen den zentralen philosophischen und gesellschaftlichen Aspekt des späteren 18. Jahrhunderts, die Aufklärung. Da es bei Mozart jedoch in erster Linie um Musik geht, stehen kunsthistorische und speziell musikästhetische Überlegungen über weite Strecken im Vordergrund. Aus diesem Amalgam baut Lütteken ein so komplexes wie anspruchsvollen Gesamtbild der Person Mozarts zusammen.

Quasi als programmatische Vorgabe für Mozarts Wirken sieht Lütteken die Devise des 18. Jahrhunderts, dass schön sei, was gefalle. Das schloss musikalische Dogmatik von vornherein aus und eröffnete Mozart die Möglichkeiten, Grenzen der konventionellen Musikästhetik auszuweiten und zu überschreiten. Die Wirkungsästhetik erklärt er am Beispiel von Rousseaus Pygmalion, der seiner Statue mit einer Berührung Leben einhaucht, und erkennt dieses Muster in inverser Gestalt im „Don Giovanni“ wieder, wenn die steinerne Statue des Komturs Don Giovanni mit einem Händedruck ins Jenseits befördert.

Die Musik hatte in der Aufklärung keinen guten Stand. Sie galt nicht als „nachahmungsfähig“ wie die darstellenden Künste, ihr fehlten die Worte für den rationalen Diskurs, und die in der Musik dargestellten Affekte waren daher vage bis mehrdeutig. Die Oper lehnte man ab, da man keinen Grund sah, den aufklärerischen Dialog in Gesangsform zu führen. Es ist laut Lütteken nicht zuletzt Mozart zu verdanken, dass diese Defizite der Musik – von der Oper bis zur Instrumentalmusik – sich innerhalb einer Dekade in ihren größten Vorzug verwandelten. Dazu war jedoch der Begriff des „Wunders“ erforderlich, der wiederum den Boden für die Einbildungskraft und damit die ästhetische Wirkungsmacht bereitete.

Das „Wunder“ hatte Leopold Mozart im physischen wie im übertragenen Sinne in die Welt gesetzt. Bei seinen Europareisen mit seinem noch kindlichen Sohn präsentierte er diesen mit geradezu entwaffnender Natürlichkeit als eben dieses „Wunder“, das auch alle Angesprochenen sofort als solches akzeptierten. Der Sohn verkehrte daher bereits als Knabe mit Monarchen und anderen hoch gestellten Persönlichkeiten bis hin zum Papst quasi auf Augenhöhe, was den Grundstein für sein späteres Selbstbewusstsein und Weltverständnis legte. Lütteken interpretiert Mozarts Verhalten vor allem in der Wiener Zeit als eine einzige Inszenierung des Außergewöhnlichen. Mozart wusste, dass er ein besonderer Mensch war, spielte diese Karte auch bewusst aus, jedoch ohne deswegen in vordergründige Arroganz zu verfallen. Für ihn war seine herausgehobene (künstlerische) Stellung eine Selbstverständlichkeit, die er im Sinne seiner Kunst konsequent nutzen musste.

Biographisch rückt Lütteken die „Flucht“ aus Salzburg nach Wien zurecht, indem er die Sogwirkung Wiens gegenüber einer Abneigung gegen Salzburg betont. Mozart wäre unter dem konservativen  Colloredo in Salzburg immer (musikalischer) Bediensteter geblieben und hätte sich nicht gemäß seinen eigenen Wünschen frei entfalten können. In Wien jedoch herrschte unter Joseph II: ein ausgesprochen liberales Klima, in dem sich Mozart eine unabhängige Existenz aufbauen konnte. Er habe diese Chance intuitiv erkannt und genutzt. Die musikalischen Akademien, die zu dieser Zeit vor allem durchreisenden Künstlern Selbstdarstellung gegen Bezahlung boten, nutzte Mozart auf ganz andere Art. Obwohl ursprünglich als Veranstaltung für das Bürgertum gedacht, wurden die Mozart-Akademien zu einem Treffpunkt des Adels, der dafür auch noch zahlte. Nicht Mozart diente sich dem Wiener Publikum an, sondern dieses sich dem bewunderten Komponisten. Lütteken sieht hier eine bewusste Strategie Mozarts, der aus dem Wissen seiner Einzigartigkeit heraus die Wiener Musikwelt nach seinem Willen formte. In diesem Sinne gab es auch keine öffentliche „Critic“ mehr, die Mozarts Musik nach rationalen Gesichtspunkte und im Vergleich mit anderen Komponisten sachlich bewertete. Musikexperten und Kritiker stimmten in die allgemeine Bewunderung des „Genies“ ein. Erstaunlich ist dabei nicht der Genie-Charakter Mozarts, sondern der einstimmige Kniefall des Publikums, den Mozart für seinen Lebensentwurf geradezu voraussetzte.

Um diese Wirkung zu erreichen, musste Mozart laut Lütteken auf die „Wirkungsmacht“ der – seiner! – Musik setzen. Diese ergab sich aus den Grenzüberschreitungen des konventionellen musikalischen Rahmens, die Mozart geradezu als Strategie einsetzte. Das war natürlich nur möglich mit einer außerordentlichen „Einbildungskraft“ – auch ein ästhetischer Begriff der Aufklärung – wie im Falle Mozarts. Lütteken untersucht die wichtigsten Werkzyklen der 1780er Jahre auf diese Grenzüberschreitungen, die tatsächlich die  entsprechenden Wirkungen hervorriefen. So setzte er eine Zeit lang ganz auf die Klavierkonzerte und sprengte vor allem in den späteren Konzerten immer wieder den Rahmen des musikalischen Erwartungshorizontes. Überraschende Satzfolgen gehören ebenso dazu wie Satztypen und instrumentale Überraschungen. Dabei betont Lütteken die Tatsache, dass Mozart kaum ein Klavierkonzert offiziell in den Druck gab, da er einzig auf die Wirkung seiner persönlichen, authentischen musikalischen Selbstinszenierung setzte.

Längere Ausführungen widmet Lütteken den Opern von der „Entführung“ bis zum „Don Giovanni“. In jeder Oper legt er die musikalischen Strategien und ihre Bezüge zu musikästhetischen oder sogar gesellschaftspolitischen Theorien offen. Den „Figaro“ setzte Mozart demnach ohne externen Auftrag aus eigenem Antrieb ins Werk, obwohl – oder besser: gerade weil – Beaumarchais´ Komödie „Der tolle Tag“ in Wien der Zensur zum Opfer gefallen war. Dabei weist Lütteken auch nach, das Mozart bei allen Opern in das Libretto eingriff, oder freundlicher ausgedrückt, dies gemeinsam mit dem Librettisten verfasste. Dabei stand nicht nur Mozarts Auffassung Pate, dass die Poesie der Musik zu dienen habe, weil schlechte Reime die Musik zerstörten, sondern auch die Handlungselemente und Rollenbilder mussten in Mozarts Vision von der gewünschten Wirkung auf die Zuschauer her entworfen werden.

Statt wie üblich die Werke zu analysieren und daraus Rückschlüsse auf Umgebung und Einflüsse zu entwickeln, stellt Lütteken die wichtigsten Begriffe der Aufklärung – etwa „Wahrheit und Affekt“, „Überwältigung und Zweifel“, „Beseelte und unbeseelte Musik“ – in den Mittelpunkt und spiegelt diese Begriffe an Mozarts Werken, vor allem natürlich den Opern. Hier findet er in jeder Oper erstaunliche Parallelen zu den Themen der Zeit und erweckt damit geradezu zwingend den Eindruck, dass Mozart kein weltfremder „Musikus“, sondern ein sehr bewusst lebender und intuitiv politischer Künstler mit einem ausgeprägtem Gespür für Zeitgeist und philosophische wie ästhetische Strömungen war. Im „Don Giovanni“ findet er die „Überwältigung“ wieder und im „Figaro“ die „Wahrheit“ des das Politische überlagernden Seelendramas. Den „Figaro“ trieb Mozart laut Lütteken nicht aus politischem Rebellentum voran, sondern wegen der Seelendramen, die sich in dieser Oper durch alle Gesellschaftsschichten ziehen und zu ungewohnten Allianzen führen. Am ausführlichsten und damit am erstaunlichsten ist Lüttekens Analyse der „Cosi fan tutte“, die oftmals als ironische bis zynische musikalische Gesellschaftskomödie wahrgenommen wird. An dieser Oper weist Lütteken geradezu akribisch die Einflüsse verschiedenster musik- und kunsttheoretischer Paradigmen der Aufklärung nach, unter anderem die Metapher von „Schiffbruch und Zuschauer“. Für Lütteken geht es in dieser Oper nicht um die erotische Verlässlichkeit der Frauen, sondern ganz existenziell um die Relativität und Brüchigkeit aller menschlichen Beziehungen.

Neben diesen ausgewählten Perspektiven und Erkenntnissen enthält Lüttekens Buch noch eine Reihe weiterer tiefgründiger Erkenntnisse hinsichtlich des Zusammenwirkens von Mozarts Musik mit dem Zeitalter der Aufklärung. In diesem Buch ist kein Satz zuviel, und der Leser ist gut beraten, jedes Kapitel und jeden Absatz gründlich zu lesen, weil sich auch in Nebensätzen und Partizipien immer wieder überraschende Erkenntnisse verbergen. „Wolferl“-Anekdoten wird man dabei jedoch nicht finden.

Das Buch ist im Verlag C.H.Beck erschienen, umfasst 296 Seiten und kostet 26,95 Euro.

Frank Raudszus

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