Kritik am Islam gerät in Deutschland schnell in den Verdacht der Islamophobie, weshalb sie vor allem bei Politikern und anderen öffentlich bedeutenden Persönlichkeiten weitgehend gemieden wird. Dabei gäbe es angesichts der inner- wie außerislamischen Terrorserie ausreichend Gründe für eine kritische Diskussion. Leider haben sich vor allem die muslimischen Gemeinden in Deutschland sowie öffentlich wirksame Vertreter dieser Religion bisher kaum oder nur sehr zaghaft zu diesem Thema geäußert. Eventuelle Meinungen beschränken sich meist auf die – so defensive wie fragwürdige – Feststellung, der Islamismus habe nichts mit dem Islam zu tun.
Da wirkt es geradezu erfrischend, wenn zwei ausgewiesene Islam-Experten und bekennende Muslims, die beide in Deutschland leben, eine öffentliche Diskussion über ihren Glauben, dessen Entstehung, Zustand und Zukunft führen. Der gebürtige Ägypter Hamed Abdel-Samad lebt seit Jahren (unter Polizeischutz) in Deutschland und hat die Debatte mit der Behauptung losgetreten, der Islam sei unreformierbar. Dagegen hat der gleichaltrige Libanese Mouhanad Khorchide protestiert, der an der Universität Münster über islamische Religionspädagogik lehrt. Da er seinen Protest zwar deutlich, aber sachlich und argumentativ gestaltete, entwickelte sich eine anfangs privat geführte Diskussion, die nun in Buchform vorliegt. Hamed Abdel-Samad fiel dabei angesichts des deutschen Reformationsjubiläums im Jahr 2017 die Analogie beider Fälle auf, und die beiden beschlossen, ihr Streitgespräch in Form von 95 Thesen à la Luther zu strukturieren. Dabei würde zwar einem von ihnen ein Beitrag mehr zur Verfügung stehen, doch diese Asymmetrie nahmen sie mit ironischer Gelassenheit hin.
Hamed Abdel-Samad ist frei schaffender Journalist und Schriftsteller und keiner Organisation verbunden, während Mouhanad Khorchide als „Islam-Professor“ in Deutschland theologisch wie politisch gewisse Rücksichten auf die islamischen Organisationen hier und im islamischen Raum nehmen muss. Ein Islam-Kritiker oder gar ein Renegat hätte den Lehrstuhl wohl kaum erhalten, da das zuständige Kultusministerium diesen Affront gegen die islamischen Verbände aus guten Gründen nicht gewagt hätte.
Diese Ausgangssitation wirkt sich natürlich auf die Diskussion aus. Man kann das Streitgespräch wie einen Sportwettkampf sehen, etwa ein Tennismatch. Dabei übernimmt Abdel-Samad die offensive Rolle und versucht mit jedem Argument direkt zu punkten, zwar stets sachlich, aber kompromisslos und auf Sieg spielend. Dagegen zeichnet sich Khorchide als Verteidigungskünstler aus, der jeden argumentativen Angriffsball noch irgendwie erreicht und ins gegnerische Feld zurückbringt. Dabei hat er mit den knallharten Bällen (Fakten!) des Gegners so viel zu tun, dass er selbst kaum zum Angriff kommt.
Das sieht im konkreten Fall so aus, dass Abdel-Samad den Koran als Grundlage des muslimischen Glaubens mehr als in Frage stellt, da er gleichzeitig die Grundlage allen Übels sei. An vielen Beispielen belegt er, dass der Koran – sprich Mohamed – Krieg sowie Versklavung oder gar Tötung der Ungläubigen, Diskriminierung der Frauen propagiere und den Islam als die höchste und einzig wahre Religion verherrliche. Khorchide kann den vielfältigen Beispielen aus nahezu allen Suren kaum widersprechen, versucht aber, zu jedem blutrünstigen Vers einer Sure ein Gegenbeispiel in einer anderen zu finden. Die brutalen Verse marginalisiert er meist mit dem Hinweis auf ihren metaphorischen Charakter. Wenn ihn Abdel-Samad dann fragt, inwieweit die großen Brüste der Jungfrauen im Paradies metaphorisch gemeint seien, geht er einer weiteren Entgegnung gerne dadurch aus dem Weg, dass er diesen Punkt einfach fallen lässt. Stattdessen forciert er die Aspekte der Liebe und Barmherzigkeit, die zentral für den Koran seien. Abdel-Samad gesteht diese Passagen durchaus zu, ordnet sie jedoch in den historischen Kontext ein. Die barmherzigen Passagen gegenüber der Welt – sprich: Andersgläubigen – stammten aus der Zeit, als Mohamed erfolglos bei den gleichgültigen bis areligiösen Mekkanern missionierte; als er in Medina zur Macht gelangt war, hätten sich seine Rachegelüste gegenüber den Mekkanern in aggressiven bis blutrünstigen Versen der späteren Suren niedergeschlagen.
Nach diesem Muster verläuft die gesamte Diskussion über neun Kapitel, die nach einem nicht immer eingehaltenen Konzept strukturiert sind. Nach einer „Positionsbestimmung“ der beiden Kontrahenten werden Themenkreise wie „Der Koran“, „Das Gottesbild im Islam“, „Islam und Gewalt“, „Scharia und der säkulare Staat“ oder „Frauenbild und Sexualität im Islam“ diskutiert. Dabei überschneiden sich die Gebiete in den aktuellen Beiträgen, da diese nicht von einer einzelnen Hand konzipiert und geordnet sondern sind, sondern oft als unmittelbare Antwort auf eine Meinungsäußerung entstehen. Jeder Leser kennt das Ab- und Ausschweifende engagierter und kontroverser Diskussionen, die sich schnell von einem gegebenem Thema entfernen. Angesichts solcher Erfahrungen ist es erstaunlich, wie weit sich diese beiden Kontrahenten doch an die Struktur halten.
Hamed Abdel-Samad spannt gleich den weiten Bogen aller Streitpunkte auf, wenn er in der Positionsbestimmung die Frage stellt, wo man bei dem „Fass ohne Boden [Islam]“ anfangen solle: „Mit der Göttlichkeit des Korans? Der Unantastbarkeit des Propheten? Dem Terrorismus und der Gewalt? Der Haltung gegenüber Nicht- und Andersgläubigen? Der Scharia? Der Stellung der Frau? Der Haltung zum Säkularismus? Dem Demokratieverständnis?“. Diese Liste zeigt die konsequente und kompromisslose Sicht des Ägypters auf seine eigene Religion und verweist damit auch auf den (religiös-)existenziellen Charakter der Diskussion. Man kann das Dilemma des aufgeklärten aber gläubigen Religionsgelehrten Khorchide verstehen. Wenn er all diese Punkte für eine sachliche, „ergebnisoffene“ Argumentation öffnet, lässt sich dieser Diskussionsprozess nicht mehr kontrollieren. Also setzt er von Anfang an auf einen angeblich metaphorischen Charakter des Korans, nur um damit in das Dilemma einer Unverbindlichkeit wie bei der evangelischen Kirche zu geraten. Genau das hält ihm Abdel-Samad dann auch vor. Einen rein metaphorisch zu verstehenden Koran könne jeder nach eigenem Belieben auslegen. Hier sei nur an Beispiele wie Gebete, Schweinefleich, Alkohol oder Trennung der Geschlechter gedacht. Darüber hinaus hält Samad seinem Gegenüber auch vor, dass die überwiegende Mehrheit aller Muslime, sogar in der (deutschen) Diaspora, den Koran als verbindliche Lebensanleitung sehe und danach lebe. Wie stelle sich Khorchide angesichts der kulturell-intellektuellen Struktur der muslimischen Völker eine selbstbestimmte Auslegung des Korans vor?
Khorchide rettet sich buchstäblich in die Feststellung, der konkrete Inhalt des Korans sei an dem historischen Kontext zu messen und spiegele nicht die heutigen Lebensbedingungen wider. Die Menschen müssten zu einer zeitgemäßen Interpretation erzogen werden und dabei vor allem die barmherzigen Passagen des Korans im Auge haben. Wie das angesichts der muslimischen Realität in den Kernländern sowie im Ausland (e. g. Deutschland) zu bewerkstelligen sei, kann er jedoch nicht konkret und überzeugend darlegen, sondern verharrt im „Prinzip Hoffnung“. Hamed Abdel-Samads frontalem Angriff auf islamische Autoritäten, allen voran Saudi-Arabien, kann er aus gegebenen Gründen natürlich auch nicht folgen, sondern schweigt dazu.
Dieses Buch ist aus verschiedenen Gründen ein kulturell-intellektueller „Eckpfeiler“. Zum Einen bringt er viele Detailinformationen über den Koran, den Propheten und den islamischen Glauben; zum Anderen äußern sich hier zum ersten Mal zwei Muslime in ausgesprochen unpolemischer und sachlicher Weise über die Probleme ihres Glaubens. Dabei wird kein Bereich ausgelassen, wobei Abdel-Samad zwar stets den Initiator und „Angreifer“ spielt, Khorchide jedoch auf Augenhöhe, wenn auch nicht in gleich scharfer Gangart, zwar mithält, aber die Kritik an der aktuellen Interpretation des Korans – bei Salafisten, Islamisten und konservativen Islam-Gelehrten – in vollem Umfang teilt. Er glaubt jedoch (oder hofft?), die Menschen ändern zu können, während Abdel-Samad daran mehr als zweifelt.
Das Buch ist im Verlag Droemer-Knaur erschienen, umfasst 300 Seiten und kostet 19,99 Euro.
Frank Raudszus
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