Im Hafen von Kopenhagen lockt die Skulptur „Lille Meerfru“ („die kleine Meerjungfrau“) auch heute noch täglich hunderte schaulustige Touristen an das felsige Ufer. Dabei kennen die meisten Besucher wahrscheinlich gar nicht die tragisch-süße Geschichte dieses nationalen Symbols.
Die kleine Meerjungfrau rettet einen schiffbrüchigen Prinzen vor dem Ertrinken und verliebt sich dabei in ihn. Um ihm nahe zu sein, lässt sie sich in eine irdische Frau verwandeln, kann sich jedoch nie außerhalb ihres natürlichen Elements einleben. Der Prinz hat für die junge Frau nur freundliche Worte übrig und heiratet schließlich eine Prinzessin. Das Angebot des unterseeischen Hexenmeisters, durch die Tötung des Prinzen ihre Nixengestalt wiederzuerlangen, kann die Meerjungfrau aus Liebe nicht annehmen und bleibt auf ewig unglücklich.
Hans Christian Andersen, der berühmte dänische Schriftsteller des 19. Jahrhunderts, hat in diesem Märchen autobiographische Elemente verarbeitet. Der nie Verheiratete war wohl einige Male unglücklich verliebt, seine erotischen Sehnsüchte galten aber höchstwahrscheinlich dem damals unerreichbaren eigenen Geschlecht. Seine homoerotische Zuneigung zu seinem Freund Edvard schlägt sich in diesem Märchen in der Figur des Prinzen wieder, und die kleine Meerjungfrau ist in gewissem Sinne das „alter ego“ des Dichters. Anderson konnte sich von dieser Liebe auch nicht durch eine – natürlich nur symbolische – Tötung des geliebten Freundes befreien und musste seine Sehnsucht ein Leben lang verstecken.
John Neumeier hat diesen biographischen Hintergrund in den Mittelpunkt seiner Choreographie gestellt. Eine direkte Umsetzung des auf den ersten Blick sentimentalen Märchens hätte eine Choreographie zweifellos an die Grenze des Kitsches oder darüber hinaus geführt. Nur als Interpretation eines autobiographischen Schlüsseltextes kann diese rührende Geschichte Tiefe und Wahrhaftigkeit erlangen.
So lässt Neumeier von Beginn an den Dichter als Teil der Geschichte auftreten, vergisst dabei jedoch nie seine gestaltende Funktion. Wenn die Figur im schwarzen Rock und Zylinder des 19. Jahrhunderts um die Personen der Märchenhandlung herum geistert, tut sie dies stets ein wenig wie ein Regisseur, der für die wahrhaftige Interpretation verantwortlich ist.
Noch vor dem Beginn der eigentlichen Handlung fällt die Dichter-Figur selbst ins Wasser und lernt die Welt der Nixen kennen. Die Welten der Luft und des Wassers trennt Neumeier durch eine leuchtende Wellenlinie, die sich leicht auf und ab bewegt. Ihr gesellen sich bisweilen andere Wellenlinien hinzu, um das Meer dichter zu gestalten, und verschwinden bei den Szenen an Land ganz. In der Unterwasserwelt, die zusätzlich eine blaue Beleuchtung erhält, bewegen sich die leuchtenden Linien im Bühnenhimmel, und einzelne Schiffe kreuzen hoch oben die Wellen. Wenn sich die Handlung unter Wasser dramatisch zuspitzt, sinken auch schon mal einzelne Schiffe auf den Grund.
Sehr eindrucksvoll gestaltet Neumeier die Bewegungen der unter Wasser lebenden Protagonisten. Schwerelos schwebende Figuren prägen diese Welt, und Silvia Azzoni in der Rolle der Meerjungfrau schwebt dabei des Öfteren auf den Armen schwarz gekleideter Tänzer durch den Bühnenraum. Während die Bewohner der Unterwasserwelt harmonisch durch ihr Element gleiten, stolpert der Dichter eher unbeholfen durch diese für ihn ungewohnte Welt. Hier zeigt Neumeier deutlich Andersens gesellschaftliches Außenseitertum.
Als harten Kontrast zeigt Neumeier das oberirdische Auftreten der Meerjungfrau: ungeschickte, geradezu behinderte Bewegungen, unvorteilhafte Kleider statt wogender Gewänder. Während die Menschen elegant tanzen – hier lässt Neumeier auch die Kostüme „tanzen“ – stolpert die Meerjungfrau zum Erbarmen ungeschickt durch die Menge. Und während sie sich nach dem geliebten Prinzen geradezu verzehrt, hat dieser nur ein so joviales wie grausames Schulterklopfen für sie übrig.
Der Höhepunkt dieser Choreographie naht mit der Versuchung der mörderischen Selbstbefreiung. In einer langen Szene versucht der Hexer der Unterwasserwelt, die Meerjungfrau mit einem ihr in die Hand gedrückten Messer zum Mord am Prinzen zu überreden, und mehrere Male ist sie dicht davor, dies in die Tat umzusetzen. Die inneren Konflikte kommen hier tänzerisch und darstellerisch überzeugend zum Ausdruck.
Die Musik der russischen Komponistin Lera Auerbach – vormals Konzertpianistin – bewegt sich durchgehend im tonalen Grenzbereich, bleibt aber weiterhin erkennbaren Motiven verhaftet. Diese Musik vermeidet jegliche Assoziation an die romantische Musik des 19. Jahrhunderts und ähnelt bisweilen in der ausgeprägten Chromatik und den Sekundreibungen an moderne elektronische Musik. Dennoch kommen der musikalische Humor und die Reverenz an große Vorbilder nicht zu kurz. So erscheint bei dem so verzweifelten wie vergeblichen Kampf der Meerjungfrau um die Liebe des Prinzen unverkennbar das Eingangsmotiv aus Beethovens fünfter Sinfonie, und der Walzer zur Hochzeit des Prinzen erinnert an Schostakowitschs berühmten Walzer. Weitere Zitate wären noch zu entdecken.
Die Klaustrophobie der Meerjungfrau symbolisiert zu Beginn des zweiten Teils ein enger Verschlag mit verschlossener Tür, in dem die zur Landbewohnerin mutierte ehemalige Nixe auch physisch um ihre verlorene Freiheit kämpft. Später werden durch eben diese Tür die Mitglieder ihrer neuen Welt strömen, ohne ihr die Möglichkeit zur Rückkehr zu eröffnen.
In der letzten Szene gesellt sich der schwarz gekleidete Autor durch die enge Tür der Kammer zu der unglücklichen Meerjungfrau, wirft seine dunkle Kleidung ab und befreit sich damit von den Zwängen der Welt. Gemeinsam tanzen sie als schwerelose weil von allem Irdischen befreite Gestalten einen geradezu apotheotischen Tanz.
In den Hauptrollen glänzen tänzerisch und darstellerisch Sivia Azzoni als Meerjungfrau, Lloyd Riggins als Dichter, Carsten Jung als Prinz, Carolina Agüero als Prinzessin und – ganz stark! – Alexandre Riabko als Meehexer.
Schade, dass dies die letzte Aufführung war!
Frank Raudszus
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