Das Varieté „Da Capo“ gastiert in diesem Jahr zum 27. Mal in Darmstadt. In dieser Zeit hat sich das Unternehmen inhaltlich und formal des Öfteren gehäutet, je nach dem Wechsel des Zeitgeistes. Eins ist in den letzten Jahren deutlich geworden: der klassische Zirkus hat dank hochauflösendem Fernsehen und Internet seine Bedeutung verloren, und das wirkt sich auch auf das Varieté aus. Die Besucher begnügen sich nicht mehr damit, einem über zweistündigen Programm mit gebannten Blicken zu folgen, sondern verlangen mehr Event-Charakter und persönliche Spaß-Effekte, wozu unter anderem ein anspruchsvolles Essen und Unterhaltungen am Tisch gehören.
Entsprechend ist auch das „Da Capo“-Zelt gestaltet: Alle Besucher sitzen an Tischen, und für die Vorführungen bleibt nur ein kleiner Platz in der Mitte des Zeltes. Das reicht für räumlich begrenzte Programmpunkte, aber nicht für großflächige Shows mit vielen Künstlern. Das Ganze ist als „Varieté-Dinner“ mit zusätzlichem Artistenprogramm konzipiert. Das muss nicht nachteilig sein, wenn es sich um hochkarätige Programmnummern handelt. Das ist bei dem diesjährigen „Da Capo“-Programm glücklicherweise über weite Strecken der Fall, so dass im Laufe des Abends tatsächlich eine gespannte Varieté-Atmosphäre aufkommt.
Allerdings verzögerte sich der Beginn der Premiere um zwanzig Minuten, was offensichtlich auf den Ablauf der Essensbestellungen zurückzuführen war. Da nach Beginn des Programms Störungen durch intensiven Tischservice nicht akzeptabel sind, musste man mit dem Programm warten, bis der Speiseservice abgeschlossen war. Auch das zeigt die Verlagerung des Schwerpunktes auf das Gastronomische.
Das Programm mit dem Titel „CONTACT“ kann sich dann aber sehen lassen. Zu Beginn führen ein Moderatorenpaar – die Sängerin Andrea Leonhardi mit langem, rotem Kleid, der Komödiant René Bazinet mit Frack und Zylinder – beschaulich in den Abend ein. Sie singt und er gibt den abgeklärten Varieté-Philosophen. Dann übernehmen die“heißen“ Tänzerinnen der Palazzo-Truppe die Bühne und heizen die Stimmung zu entsprechender Musik an. Es folgt die ukrainische Laser-Show YAD, bei der eine dunkle Männerfigur mit „SF“-mäßig leuchtendem Raumfahreranzug die Strahlen mit den Händen dirigiert und damit alle möglichen Figuren an die Zeltwand zaubert. Anschließend stürmt der Ukrainer Vladislav Myagkostupov auf die Bühne und turnt Bälle jonglierend über den Boden und am Ring. Der Artist bringt es tatsächlich mit scheinbarer Leichtigkeit fertig, während anspruchsvoller Boden- und Luftakrobatik seine Bälle fehlerlos durch die Luft zu wirbeln.
Nach diesem furiosen Beginn ist es Zeit für ruhigere Nummern, eine „Geräusch-Pantomime“ von René Bazinet, der mit elektronisch verstärkten Stimmgeräuschen einen verzweifelten Kampf mit dem Wasser simuliert. Als er scheinbar schwerelos im virtuellen Wasser treibt, erlösen ihn die Palazzo-Tänzerinnen in einem angedeuteten afrikanischen Outfit und leiten über zu den beiden Ikarieren Ephrem Fekade Demesa und Legese Aba Dida aus Äthiopien, die sich gegenseitig in die Luft schleudern oder den jeweils anderen auf den hochgestreckten Beiden rotieren lassen. Den beiden jungen Männern ist die reine Bewegungsfreude nicht nur in die Körper sondern auch ins Gesicht geschrieben.
Der Ire Daniel Sullivan zeigt seine artistischen Fähigkeiten an einem ganzen Satz von Hula-Hoop-Reifen und am Ring, bevor der US-Amerikaner Tom Murphy das nach ihm benannte(??) Gesetz (Murphy´s Law) an handfesten Beispielen belegt. Was er auch anfasst – sei es ein Stuhl oder eine Leiter -, zerfällt in seine Einzelteile, und in seinem betonten Übereifer stolpert er über jede (nicht) vorhandene Unebenheit und schlägt der Länge nach hin – gerne auch zwischen den Zuschauertischen. Der besondere Witz dieser Nummer liegt in seiner betont seriösen Aufmachung mit Anzug und Krawatte, die eine solche Clownsnummer nicht erwarten lässt. Allerdings erschöpft sich der humoristische Effekt des Unglücksraben wegen der ähnlichen Varianten ziemlich schnell. Nicht umsonst klagt Murphy einmal in gespielter Verzweiflung den Applaus mit dem Ausruf „Das ist doch witzig!“ ein.
Das ist in kurzer Zusammenfassung der Ablauf der ersten Hälfte. Nach der Pause geht es in ähnlichem Stil weiter, jetzt jedoch in jeder Beziehung deutlich zugespitzt. Ein Höhepunkt stellt dort die Drahtseilnummer des Chinesen Li Wie auf dem Schlappseil, ein eher „schlapp“ durchhängendes Seil, das besonders schwer zu begehen ist. Doch mit Gehen gibt er sich nicht lange ab: er treibt es bis zum – im wahrsten Sinne unfassbaren – einarmigen Handstand auf dem wackelnden Seil und fährt zum Schluss sogar noch mit dem Einrad über das Seil. Schon allein diese Nummer lohnt den Besuch der gesamten Vorstellung. Dagegen nimmt sich die René Bazinets nächste „Geräuschnummer“ ziemlich langatmig aus. Mit einem Herrn aus dem Publikum geht er verschiedene typische Situationen durch, die nicht immer sofort nachzuvollziehen sind und daher streckenweise etwas Ratlosigkeit im Publikum hinterlassen. Die Vorführung eines Zuschauers – auch wenn sie diesen nicht bloßstellt – wirkt nur kurzfristig und mit Knalleffekten. Letztere fehlen hier, und das ganze zieht sich arg in die Länge, obwohl der Mitspieler sich prächtig schlägt.
Da wirkt die Paar-Akrobatik des ukrainischen Paares Artem Panasyuk und Anastasia Krutikova wesentlich dichter und sogar erotisch-kraftvoll. „Hand auf Hand“ vollführen sie mit scheinbarer Leichtigkeit und Natürlichkeit die schwierigsten Bewegungsabläufe und wirken dabei wie ein einziger Organismus. Auch am Hochseil sind diese beiden perfekt und absolvieren die schwierigsten und dynamischsten Figuren auf souveräne Weise.
Der ukrainische Lasermann liefert noch einmal ein Beispiel seiner Beherrschung der „Strahlenwaffen“ und zaubert ein Füllhorn von Laserfiguren in das dunkle Zelt, und dann folgt zum Schluss noch einmal ein Höhepunkt: Daniel Monni und Marina Sabetta aus Italien zeigen, was man auf und mit Rollschuhen alles machen kann. Tempo, absolute Körperbeherrschung und harmonisches Zusammenspiel prägen ihren Auftritt, der auch bis ins Zwischenmenschliche hinein überzeugend wirkt und einen abschließenden Höhepunkt bildet.
Das Schöne an diesem Abend ist, dass sich die Höhepunkte im Gedächtnis der Zuschauer einbrennen, während die eher zähen Beiträge schnell wieder in Vergessenheit geraten. Nur der Chronist muss noch daran erinnern.
Eins noch: die Musik von Urs Fuchs und seiner Band ist über weite Strecken zu laut, zumal das Schlagzeug eine zentrale Rolle spielt. Das gilt besonders für die spannenden Nummern wie etwa am Schlappseil, wo eine leise, auf Spannung setzende Musik wesentlich effektiver wäre. Hier werden die spannendsten Momente bisweilen leider akustisch buchstäblich zugedröhnt.
Das Premierenpublikum zeigte sich jedoch sehr angetan und spendete allen Beteiligten kräftigen Schlussbeifall.
Frank Raudszus
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