Die Koinzidenz der Spielpläne will es, dass das Thema Flucht im weitesten und engsten Sinne sowohl im Hessischen Staatsballett als auch im Schauspiel Frankfurt gleichzeitig mit Franz Schuberts „Winterreise“ assoziiert wird. Während in Wiesbaden Schuberts Liederzyklus der Choreographie Titel und Thema verleiht, begleiten auserwählte Lieder des düsteren Zyklus´ in Frankfurt die Flucht des Georg Heisler aus dem KZ Westhofen – Pseudonym für das reale Lager Osthofen bei Worms. Wenn man, wie der Rezensent, beide Inszenierungen an aufeinander folgenden Tagen gesehen hat, eröffnet das reizvolle Vergleiche.
Doch zurück zu Anna Seghers Roman „Das siebte Kreuz“. Seine stringente, zielgerichtete Handlung und der Verzicht auf epische Elemente prädestinieren ihn für eine Theaterbearbeitung. Die Dramaturgin Sabine Reich und Schauspieldirektor Anselm Weber vom Schauspiel Frankfurt haben diese Arbeit gemeinsam geleistet und eine Darstellungsform geschaffen, die an die antike griechische Tragödie erinnert. Die Bühne des Schauspiels wurde um eine quadratische Plattform in der Mitte der ersten Zuschauerreihen erweitert, auf der sich die Handlung abspielt. Dieses Quadrat symbolisiert die psychische und physische, ja existenzielle Enge, in der sich der aus dem KZ geflohene Georg Heisler befindet. Die dahinter liegende, eigentliche Bühne dient in Form eines schmalen Bandes nur als Rückzugsmöglichkeit der nicht agierenden Darsteller. Auf ein explizites Bühnenbild verzichtet Anselm Weber, gleichzeitig auch Regisseur dieser Inszenierung, vollständig. Dadurch konzentrieren sich Spiel und Rezeption vollständig auf die Darsteller, die durch Sprache und Gestik die jeweilige Umgebung erzeugen müssen. Angesichts des düsteren Themas ist diese puristische Herangehensweise mehr als nachvollziehbar: keinerlei historische oder lokale Assoziationen lenken von der Handlung ab.
Die Theaterbearbeitung verdichtet das Personal auf die für die Flucht Georg Heislers notwendigen Figuren: den Mithäftling und -flüchtling Wallau, Georgs Freundin Leni, sein Freund Paul Röder und dessen Frau Liesl sowie Dr. Kreß und wenige andere. Die sechs Schauspieler übernehmen jeweils wechselnde Rollen bis hin zu den vernehmenden Kriminalkommissar Overkamp, den ironischerweise bei Wallaus Vernehmung ausgerechnet Max Simonischek spricht, der Darsteller des Georg. Den Zuschauern fordern diese schnellen Rollenwechsel erhöhte Konzentration ab, zumal dabei meist höchstens kleinere Kleidungsaccesoires gewechselt werden. Allein der gesprochene Text und die Darstellung müssen dann den Wechsel von Ort und Personen verdeutlichen. Dies gelingt deshalb sehr gut, weil einzig Georg in der Person von Max Simonischek ein darstellerisches Unikat bleibt und die Inszenierung von der ersten bis zur letzten Szene als Hauptdarsteller beherrscht. Er sorgt dann auch für den roten Faden in den wechselnden Szenen.
Schon die erste Szene setzt Maßstäbe, wenn sich Max Simonischek von hinten durch die Mauer von sechs dunkel gekleideten Menschen windet, die seiner nicht achten und starr nach vorne blicken. Aus diesen anonymen Mitbürgern, die selbst ein Abbild der Angst vor Verfolgung sind, werden dann identifizierbare Personen aus Georgs altem und aktuellen Leben. Sie begleiten seine Flucht, mal als misstrauische und ängstliche Dorfbewohner und latente Denunzianten, mal als versponnene Außenseiter, die ihm eher ungewollt zum Kleiderwechsel verhelfen. Seine ehemalige Freundin Leni verleugnet ihn, da sie mittlerweile mit einem Parteigenossen verheiratet ist, und andere ehemalige Freunde verhalten sich ebenso, weil sie ihn für einen Gestapo-Spitzel halten. Der ebenfalls flüchtige Mithäftling Füllgrabe will sich stellen, da er den Stress der Flucht nicht mehr aushält, und will Georg ebenfalls dazu überreden. Doch Georg lehnt ab, zu Recht, denn eine kurze Vernehmungsszene zeigt, dass Füllgrabe wohl nicht auf Schonung rechnen kann.
Gehetzt, abgelehnt und in steter Furcht vor Denunziation kraucht Georg zerlumpt von Versteck zu Versteck, und erst sein alter Freund Paul Röder hilft ihm uneigennützig, obwohl er um die Gefahr für sich selbst weiß. Am Schluss entkommt Georg mit viel Glück und der selbstlosen Hilfe von Röder, dem Kommunisten Fiedler und anderen mutigen Hilfswilligen als einziger der sieben Flüchtlinge. Von den vom Lagerkommandanten aus sieben Pappeln erbauten Kreuzen bleibt zumindest eins ungenutzt.
Diese kompromisslose Wanderung eines Flüchtlings durch eine eher zufällige Gruppe von Ängstlichen, Verleugnern, Denunzianten und – ja! – mutigen Unterstützern zielt natürlich nicht nur auf die Situation im frühen Dritten Reich ab, sondern verweist eindeutig auf die Situation heutiger Flüchtlinge, etwa aus dem Syrienkrieg, und die Reaktion der gesellschaftlichen Gruppen, die sie bei ihrer Flucht durchlaufen. Auch ohne platte Aktualisierungen ist diese Analogie förmlich mit den Händen zu greifen, wenn Georg in seiner verständlichen Angst jedes Zögern und jedes „Aber“, sei es ausgesprochen oder durch Körpersprache ausgedrückt, sofort wittert und mit erneuter Flucht beantwortet. Dass er schließlich doch überlebt, ist als Hoffnungsschimmer zu verstehen. Andere Autoren hätten ihn konsequenterweise sterben lassen, wie es den meisten Flüchtlingen im Dritten Reich und auch vielen aus dem heutigen Nahen Osten ergangen ist.
Den Fortgang der Handlung tragen die anderen Schauspieler jeweils wie der Chor aus der griechischen Tragödie vor, dabei den Text des Romans zitierend, bevor Einzelne aus diesem Chor austreten und das jeweils aktuelle Gegenüber Georg Heislers zu spielen. Dabei ergibt sich die Analogie zur griechischen Tragödie auch aus dem kargen, dunklen Bühnenhintergrund und den schlichten, vorwiegend dunklen Kostümen der anderen Darsteller. Dazu singt der Bassbariton Thesele Kemane ausgewählte Lieder aus Franz Schuberts „Winterreise“, die der jeweiligen Situation der Handlung nahe kommen, zu einer fast schroffen Klavierbegleitung aus dem „Off“. Diese gesanglichen Einschübe wirken wie Markierungssteine auf Georg Heislers Fluchtweg.
Neben Max Simonischek treten in permanent wechselnden Rollen Paula Hans und Olivia Grigoli sowie Christoph Pütthoff, Wolfgang Vogler und Michael Schütz auf. Keiner von ihnen spielt eine durchgehende Rolle, aber alle verkörpern ihre jeweiligen Figuren mit Glaubwürdigkeit und einem tiefen, dem Thema angemessenen Ernst. Auf Ironie oder gar Humor verzichtet diese Inszenierung aus guten Gründen vollständig. Max Simonischek überzeugt in der Rolle des gehetzten, bisweilen verzweifelten, aber stets hoffenden Georg Heisler sowohl sprachlich als auch gestisch und körperlich, denn letzteres spielt bei einer solch existenziellen Situation eine besonders wichtige Rolle. Man sieht seine physische Widerstandskraft von Szene zu Szene schwinden, und die finale Rettung kommt wirklich in der allerletzte Minute.
Viel Beifall für das gesamte Ensemble, das dem Publikum einen denkwürdigen Abend geboten hat.
Frank Raudszus
No comments yet.