Peter Sloterdijk ist in gewisser Weise das „enfant terrible“ der aktuellen intellektuellen und philosophischen Szene, da er sich in kein Raster einordnen lässt und keiner Ideologie anhängt. Nachdem ihn die Linken wegen seiner endgültigen geschichtsphilosophischen Absage an sie zur „persona non grata“ erklärt haben – einschließlich der „Ächtung“ seines Namens -, dürfte er spätestens nach diesem Buch auch die Sympathie der christlichen Kirchen – vor allem der katholischen – verloren haben. Geht er doch, wie es der Titel bereits lakonisch ausdrückt, davon aus, dass die christlichen Religionen eine nur begrenzte Phase in der spirituellen Entwicklung der Menschheit darstellen und spätestens im 21. Jahrhundert an das Ende ihrer zweitausendjährigen Geschichte gelangt sind, auch wenn sie derzeit noch durchaus eine gewichtige öffentliche Rolle spielen. Das Schlimme für gläubige Christen ist dabei der Verzicht auf jegliche Polemik, der dieses Verdikt zu einer ressentimentfreien Tatsachenfeststellung macht, die man nicht als emotionale Abrechnung nach einer schweren persönlichen Enttäuschung deuten kann.
Gleich zu Beginn weist der Autor in einem „Götterdämmerung“ übertitelten Kapitel auf den Grundwiderspruch von „Allmacht“ und „Allwissenheit“ hin. Wer allmächtig ist, kann beliebige „neue“ Dinge tun, für den „Allwissenden“ gibt es jedoch keine Neuigkeiten, da er alles nur Mögliche bereits kennt. Widersprüche wie diese fielen den Propheten einer anthropozentrischen Weltsicht auf und ließen sich auch von Theologen nicht mehr glaubwürdig erklären. Im frühen Christentum war nur die göttliche Instanz zur „Schöpfung“ befugt, doch mit der „translatio creativitatis“ im Humanismus ging diese Befugnis an die Menschen über, die sich fortan ihre Welt selbst bauten. Für diesen Vorgang zitiert Sloterdijk unter anderem Richard Wagners „Götterdämmerung“, die für ihn den Weg von den Göttern über die Helden zum Menschen nachzeichnet. Auch das Schicksal (des Menschen) ist nicht von Gott gegeben, sondern – frei nach Wittgenstein – „alles, was geschieht“.
Sloterdijk kommt auch ausführlich auf die Entstehung der christlichen Religion aus der „Gnosis“ zu sprechen, die man als Erlösungssuche beschreiben kann. Im Gegensatz zur statischen Götterwelt der Antike, die keine einschneidenden Ereignisse sondern nur fortlaufendes (menschliches) Gezänk im Olymp kannte, basiert die Gnosis auf einer „Ereigniskette“ von Schöpfung, Fall und Erlösung, von Sloterdijk als „katastrophale“ Ereignisse bezeichnet. An späterer Stelle leitet er aus den stark ausdifferenzierten religiösen Hierarchien der frühen Hochkulturen ab, dass die ohne spirituelles Heilsversprechen dahindarbenden Volksmassen sich förmlich nach einer solchen „Erlösung“ sehnten. Die erwähnten Ereignisse bestehen dabei stets in einem „Hinweg“ (aus dem Paradies) in die Sünde und einem reuevollen „Rückweg“ in die göttliche Gnade. Im Christentum war die „imitatio Christi“, d. h. die Nachahmung der Leiden Christi, das höchste anzustrebende Ziel und bestand daher im Wesentlichen aus passivem Leiden. Mit der „imitatio patris“ jedoch schwang sich der Mensch zum „Gott der zweiten Schöpfungswoche“ auf.
In diesem Zusammenhang behandelt Sloterdijk auch die Reformation. Martin Luther „entlarvt“ er als im Grunde genommene regressive Figur, da er den Weg zurück zu den Anfängen einer persönlichen Religion forderte, der letztlich auch die alten religiösen Tugenden wie Askese und Weltabwendung implizierte. Sloterdijk sieht in ihm „theologische Tobsucht“ walten und keinerlei Beziehung seiner Gottes- und Weltsicht zu der neuzeitlichen geistigen Grundstimmung. Erst spätere „Nachfolger“ wie Johann Sebastian Bach, Leibniz, Lessing , Kant und Hegel haben aus seiner Sicht Luthers rückwärtsgewandter Verzweiflungsreligion eine aufklärerische Note verliehen und ihn damit geadelt. Bach habe mit seiner Musik „den Jubel in die Kirchen zurückgebracht“, Leibniz „den Anteil der Widervernunft an der Schöpfung minimiert“ und die Weimarer Klassik schließlich eine „aufgeheiterte Transposition der wittenbergischen Sendschreiben“ geliefert. Sie allen seien Luthers geistesgeschichtliches Glück gewesen.
Eine ausführliche Abhandlung widmet der Autor den sieben Intimverhältnissen des Menschen, der „In-Heit“, wobei er sich auf die zur spirituellen Instanz beschränkt. Hier weist er auf die beiden logischen Grundprobleme hin: wie kann der Mensch nach dem Sündenfall noch „eins“ mit Gott sein, und wie ist das Intimverhältnis zwischen Gott und sich selbst in der Gestalt Jesu zu beschreiben? Ersteren Widerspruch löste die Theologie dadurch auf, dass sie die (menschliche) Erkenntnis der göttlichen „Wahrheit“ als ein Wiedererkennen einer schon immer existenten Beziehung beschreibt, die durch den Sündenfall nur gestört war. Die Trinität zwischen Gott, Jesus und dem Heiligen Geist ist viel schwieriger zu erklären und wird mystisch als eine „Einheit mit Unterschieden“ beschrieben, da eine wirkliche Differenz eine Trennung bedeuten würde. Mit dem Kürzel „Drei gleich Eins“ und „Eins gleich Drei“ liefert die Theologie eine schwierige und widerspruchsvolle Definition der göttlichen Intimsphäre.
Ein umfangreiches Kapitel widmet Sloterdijk der Person Jesu Christi, den er konsequent als ekstatischen Wanderprediger mit ungewisser Abstammung skizziert. Der religiöse Umbruch mit dem Beginn unserer Zeitrechnung könnte damit auf der Ablehnung eines abgängigen Vaters (ein römischer Soldat?) beruhen, die in eine spirituelle Vatersuche und -findung mündete. In diesem Sinne erklärt sich für Sloterdijk auch Jesus´ Antifamilialismus, der sich in der Forderung an seine Jünger ausdrückte, ihre Familien zu verlassen und sich ihm anzuschließen. Der Begriff „Vater“ sei für Jesus dem „Vater im Himmel“ vorbehalten gewesen, womit der zweitausendjährige „Gottvater“-Kult seinen Anfang nahm. Mit ausführlichen Literatur- und Bibelzitaten weist Sloterdijk auf die logischen Schwierigkeiten hin, den Gläubigen die Geschichte von der unmittelbaren biologischen Vaterschaft Gottes angesichts dessen Weltentrückheit und den Vorstellungen eines geordneten Familienlebens zu vermitteln. Das ging nur durch entsprechende Überhöhungen, die letztlich jeden Menschen zu einem göttlichen Ursprung verhalfen. Das erklärt auch die Weltabgewandtheit späterer Eremiten, die durch konsequente Askese die unmittelbare göttliche Nähe geradezu erzwingen wollten.
Seit der Selbsterhebung des Menschen zum kreativen Schöpfer nimmt die noch aus der religiösen Phase stammende „vertikale Spannung“ laut Sloterdijk innerhalb des Menschen stetig ab und ist in der heutigen Zeit einem Egalitarismus gewachsen, der die Unterschiede unter dem Schlagwort „Vielfalt“ mehr im Horizontalen als im Vertikalen sucht. Wie auch immer geartete Programme zur „Menschenverbesserung“ sind heute nahezu geächtet. Das liegt nicht zuletzt an der Eugenik, die seit dem 20. Jahrhundert einen nicht wieder gut zu machenden schlechten Ruf erworben hat. In diesem Zusammenhang weist Sloterdijk darauf hin, dass die Eugenik entgegen landläufiger Auffassung kein Kind des Nationalsozialismus sei, der sich vielmehr durch die Euthanasie außerhalb der menschlichen Gesellschaft gestellt habe. Dagegen seien gerade die Linken, vor allem die Bolschewiken, von der Idee eines (eugenisch) verbesserten Menschen fasziniert gewesen, die sogar das Privileg unterschiedlicher (privater!) Lebenszeit durch die Erfindung der Unsterblichkeit ein für allemal beenden sollte. Der so oft – bewusst und unbewusst – missverstandene „Übermensch“ Nitzsches löst sich laut Sloterdijk in natürliche Verbesserungsprozesse auf, die letztlich ein Erbe der „vertikalen Spannung“ des Christentums seien.
Die Aufgaben der „Menschenverbesserung“ des Christentums („imitatio Christi“) sieht Sloterdijk in der Moderne durch die Psychoanalyse wahrgenommen. Die zerfällt für ihn in Post-Exorzismus, Post-Idealismus und Post-Judaismus und besteht letztlich – wie in der Religion! – in Grenzüberschreitungen zwischen „personalen“ Einheiten. Letztlich geht es bei der Psychoanalyse um eine Nachbeseelung buchstäblich „entgeisterter“ Menschen. Den Post-Idealismus verortet Sloterdijk im Konzept der Seele im Idealismus, das aus einer allgegenwärtigen göttlichen Durchdringung des menschlichen Wesens besteht. Der Judaismus wiederum kehrt in der Psychoanalyse als Exodus eines „neurotisch-ägyptischen“ Lebens in ein „libidinöses Kanaan“ wieder.
Eine längere Betrachtung widmet Sloterdijk auch der philosophischen Unterscheidung zwischen Apostel (mit externem Sender) und dem Genie (mit internem Sendungsbewusstsein) und bezieht sich hier vor allem auf Kierkegaard, der Genie gewesen sei aber gerne Apostel gewesen wäre. Dieses Thema führt ihn zur Moderne, die im Gegensatz zum „glücklichen“ Mittelalter keinen externen Beobachter mehr kenne. Das Mittelalter hatte sich in aller Naivität selbst definiert und erlaubte keinen kritischen Beobachter (außer Gott). Die Neuzeit jedoch kennt den – außen stehenden – skeptischen menschlichen Beobachter, und nicht zuletzt der Buchdruck hat diese Entwicklung maßgeblich vorangetrieben. Die modernen Gesellschaften haben sich spirituell „selbstklimatisiert“ und lassen sich deswegen nicht mehr aus der Ruhe bringen geschweige denn in Verzweiflung stürzen. Die Religion überlebt – wenn überhaupt – in einem privaten Kokoon ohne allgemeinverbindliche Verpflichtung. Allerdings ist in letzter Zeit – vor allem in den USA – eine deutliche Nachfrage nach spirituellen Angeboten zu verzeichnen. Dort gilt im allgemeinen die pragmatische Regel, dass alles gut sei, was mir gut tue. Eine Fundgrube für Esoterik und Sektiererei aller Art. In diesem Zusammenhang verweist Sloterdijk auf den amerikanischen Religionsphilosophen William James, der den „Willen zum Glauben“ als persönliche Alternative preist. Glaube sei keine göttliche Gnade, die ohne logische Beweise wirke, sondern könne durch bewusste Eigenmotivation erworben werde.
Die Säkularisation fasst Sloterdijk in drei menschliche Antriebe zusammen:
- alles erfassende Verarbeitung (durch den Menschen)
- ständig erweiterte Selbstaktivierung
- Selbstgenuss der Kraftentfaltung
Diese drei Elemente liefern in gewisser Weise die Befriedigung, für die früher die Religion zuständig war. Laut Sloterdijks Fazit wird „Gott überflüssig“.
Am Ende verliert das Buch ein wenig an Konsistenz, da Sloterdijk hier nicht mehr große, komplexe Themen abhandelt, sondern Vorträge und kurze Essays angehängt hat. Die sind jeder für sich durchaus lesenswert und haben auch jeweils etwas mit dem Thema „Gott“ zu tun, fügen sich aber nicht in den großen Zusammenhang seiner Überlegungen ein. Das sind jedoch eher etwas abgeschwächte Nachklänge seiner Überlegungen denn ein intellektueller Abstieg ins Beiläufige.
Mit diesem Buch trifft Sloterdijk ein elementares Phänomen der Moderne punktgenau: den Verlust der religionsgebundenen Spiritualität, der von den Kirchen so gerne ignoriert oder marginalisiert wird. Nach seiner Ächtung durch die Linken wird er sich mit diesem beeindruckend umfassenden und tiefschürfenden Buch auch im zweiten ideologischen Kreis, dem christlichen Klerus, keine Freunde erworben haben.
Das Buch ist im Suhrkamp-Verlag erschienen, umfasst 364 Seiten und kostet 28 Euro.
Frank Raudszus
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