Amélie Nothomb: „Töte mich“

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Der antike Mythos der Atriden um Agamemnon, Klytemnestra, Orest, Electra und Iphigenie beschreibt existenzielle menschliche Grenzsituationen wie Kinder-, Gatten- und Muttermord, jeweils aus schicksalhaften Motiven.  Die Tragödie beginnt damit, dass Agamemnon seine eigene Tochter Iphigenie für guten Wind nach Troja opfern muss….

Amélie Nothomb greift diesen Mythos auf und verwandelt ihn in eine zeitgenössische Familiengeschichte. Dabei wählt sie die Form eines vordergründig naiven Märchens, indem sie die Figuren und Situationen bewusst holzschnittartig darstellt und ironisch überzeichnet. Ein wegen Gutmütigkeit und Ehrlichkeit bankrotter belgischer Graf erfährt von einer Wahrsagerin, dass er auf seiner letzten großen Party vor dem Notverkauf des Familienschlosses einen Gast umbringen wird. Der eigentlich nicht abergläubische Graf ist von dieser Prophezeiung doch geschockt und gerät vollends aus der Fassung, als seine siebzehnjährige Tochter sich als Kennerin seiner schwierigen Situation erweist und ihn erfordert, sie zu töten, da sie seit Jahren keinen Lebenstrieb mehr verspüre. In einer längeren Diskussion zeigt sie sich intellektuell und psychologisch als mit allen Wassern gewaschen und entkräftet all seine vorhersehbaren Gegenargumente als Mensch und Vater. Nothomb dreht den alten Mythos im Sinne einer weiblichen Emanzipation einfach um und entzündet daran ein Feuerwerk an geistreichen Überlegungen. Neben dem Atridenmythos flicht die Autorin auch noch das Aschenputtelthema ein, denn die Tochter ist eher unauffällig im Gegensatz zu ihren Geschwistern Oreste und Électre (!!), die an Geist, Schönheit und Charme kaum zu übertreffen sind.

Der Graf sieht sich durch die nicht zu widerlegenden Argumente seiner Tochter in die Enge getrieben und stimmt zu; nicht zuletzt deshalb, weil er in der Prophezeiung der Wahrsagerin so etwas wie das griechische Schicksal sieht, dem sich niemand entziehen kann. Dazu trägt auch die Wut über dieses „Gör“ bei, das ihn so in die Enge getrieben und ihm kein Argument mehr gelassen hat. Er benötigt diese Wut geradezu, um zum Gewehr greifen zu können. Als sie jedoch im letzten Augenblick vor der vereinbarten Tat ihren Wunsch ausdrücklich zurücknimmt, da die von einer jungen Sängerin vorgetragenen Schubert-Lieder zum ersten Male tiefe Gefühle bei ihr geweckt hätten, spielt der Vater nicht mehr mit, frei nach dem Motto „ausgemacht ist ausgemacht“.

Da das ganze als Märchen angelegt ist, geht es natürlich gut aus. Amélie Nothomb wählt dafür bewusst einen platten „deus ex machina“, der so banal daherkommt, dass man ihn nur als bewusste Ironie deuten kann. Spätestens zu diesem Zeitpunkt, der allerdings sehr spät ausfällt, wird jedem Leser klar, dass es ihr lediglich um das intellektuelle Spiel mit den alten Mythen geht. Man kann sich vorstellen, wie Iphigenie ihren Vater angefleht hat, sie zu verschonen, und verschiedene Dichter der Weltliteratur haben das ausgiebig getan. Amélie Nothomb jedoch lässt das Mädchen um seinen Tod bitten und den Vater um „Gnade“ flehen. Und genau so, wie Iphigenie sich schließlich dem Schicksal beugte, beugt sich auch der Vater hier – bis der kleine Kobold „deus ex machina“ zum Schluss alles dreht. Den allerdings gab es in der antiken Tragödie nicht.

Amélie Nothombs Roman liest sich spritzig und messerscharf zugleich. Wer Sinn für makabren Humor hat oder sich – mit Hilfe der Autorin! – die notwendige ironische Distanz zur Romanhandlung verschafft, kann bei diesem Roman sogar intellektuelles Vergnügen – um nicht zu sagen: Spaß – empfinden. Schließlich geht ja am Ende auch alles gut aus.

Das Buch ist im Diogenes-Verlag erschienen, umfasst 111 Seiten und kostet 20 Euro.

Frank Raudszus

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