Gleich zu Beginn zeigt diese Inszenierung von Mozarts Oper „Die Hochzeit des Figaro“, wohin die Interpretationsreise geht: einerseits wird durch die Hochlegung des Orchestergrabens nicht nur die Musik im Wortsinn in den Vordergrund gerückt, sondern dadurch auch der „Guckkasten“-Aspekt des Theaterwesens verdeutlicht. Der Illusionscharakter aller Schauspielerei wird dadurch offenkundig, dass die Darsteller hinter dem deutlich sichtbaren Orchester agieren und dadurch die Fiktionaliät des Spiels offenlegen. Auf den Versuch, das Publikum durch die unmittelbare Präsenz des Spiels und das Verbergen der Musikproduktion in eine Scheinrealität hineinzusaugen, verzichtet diese Inszenierung von vornherein konsequent. Durch diese scheinbare Distanzierung kommen jedoch das Groteske der Handlung und der Lehrstück-Charakter besonders gut zum Ausdruck. Darsteller und Publikum sind sich in jedem Augenblick der Aufführung darüber im Klaren, dass es sich hier nicht um die gesellschaftliche Realität sondern höchsten um einen Wunschtraum, eine Illusion handelt. Nur so ist allerdings die wundersame, geradezu kitschig-unglaubwürdige Wendung der dramatischen Handlung im dritten Akt zu vermitteln: als gespielte Groteske.
Doch die Einbettung des Orchesters ins sichtbare Bühnengeschehen hat auch durchaus beabsichtigte musikalische Gründe und Konsequenzen. Eine aus dem Orchestergraben nach oben sich ausbreitende Musik entfaltet eine ganz andere Wirkung als eine ungehindert auf die Bühne und in den Zuschauerraum strahlende. In dieser „offenen“ Anordnung klingt Mozarts Musik wesentlich präsenter und unmittelbarer, ja: auch aggressiver als aus dem distanzierten Dunkel des Grabens. Das passt natürlich ideal zu der latent aggressiven Grundstruktur dieser Oper, deren Handlung aus einem dauernden Verteidigungskampf nicht nur des unterdrückten Volkes gegen die Willkür des Adels sondern ebenso aus dem sehr ähnlichen Befreiungskampf der Frauen (die Gräfin!) gegen die Männer besteht. Dass hier am Ende die Dienstboten gegen den Adel und die Ehefrau gegen den untreuen Gemahl siegen, ist – wie gesagt – nur ein Wunschtraum der Theaterillusion. Das Orchester unter der Leitung des kosmopolitischen Wahl-Wieners Rubén Dubrovsky unterstreicht diesen Ansatz noch durch eher kontrastreiche und streckenweise schroffe Klangfarben, und bereits in der Ouvertüre konterkariert Dubrovsky die Melodiebögen durch besonders markante Schläge des Orchesters, auf mozartschen „Wohllaut“ bewusst verzichtend.
Zu dieser eher aufrüttelnden als fröhlichen Ouvertüre räkelt sich ein Paar in einem Bett auf der Bühne, und dem Bett entsteigt als erster ein wahrer Muskelmann mit nacktem Oberkörper – Georg Festl als Figaro. Man könnte es als Zufall bezeichnen, das Festl die Anmutung eines Bodybuilders verströmt, doch der weitere Fortgang dieser Inszenierung lässt kühles Kalkül vermuten. Denn dieser Figaro weiß von vornherein, was er will, und ist sich seines Sieges von vornherein gewiss. Selbst seine – natürlich unberechtigte – Eifersucht gegenüber Susannas Aktivitäten mindert sein gesellschaftliches Selbstbewusstsein gegenüber dem schäbigen Grafen nicht gravierend. Ähnliches gilt für die von Jana Baumeister gespielte Susanna. Auch sie beweist durchgängig Selbstbewusstsein und Stärke, auch wenn der gesungene Text dem bisweilen entgegensteht.
Dieser Interpretation entspricht passgenau auf der anderen Seite die Charakterisierung des Grafen Almaviva und seiner Frau. David Pichlmayers Graf Almaviva tritt stets im makellosen Dreireiher und mit der gelangweilten Noblesse eines von der Dekadenz nicht nur angehauchten Großadels auf. Die Verführung hübscher Zofen gehört bei ihm eher zur Imagepflege, als dass es einem unbeherrschbaren Begehren oder gar erotischer Zuneigung entspränge. Bei diesem Grafen hat man bisweilen das Gefühl, dass er sich auch ein Leben ohne die lästige Pflicht der erotischen Abenteuer vorstellen könnte, aber die Pflicht ruft halt. Ähnlich verhält es sich mit der Eifersucht gegenüber seiner Frau. Auch hier geht es ausschließlich um seinen Ruf als Adliger und Ehemann, der keinen Schaden leiden darf. Solange die Eskapaden seiner Frau nicht offenkundig werden, sind sie ihm gleichgültig, aber wehe, ein fremder Mann wird in ihren Gemächern gesehen. Dann muss er der lästigen Pflicht genügen, seinem Ehrgefühl Genugtuung zu verschaffen. In der Szene vor der verschlossenen Kammer, in der er – zu Recht – Cherubino vermutet, greift er denn auch nach einer endlosen Diskussion mit der Gräfin, die beiden viele und gern genutzte sängerische und schauspielerische Möglichkeiten einräumt, eher widerwillig zu durchgreifenden Maßnahmen.
Diesen Hauch gelangweilter Dekadenz verströmt nicht nur David Pichlmayer als Almaviva, sondern auch Katharina Persicke als Gräfin. Das wird besonders deutlich, wenn sie sich in der Badewanne räkelt und vor Langeweile nicht weiß, wohin mit dem langen Tag. Regisseurin Emmanuelle Bastet legt beide Figuren bewusst als überreife Früchte einer verblühenden Epoche an, was sich natürlich mit dem historischen Wissen der Nachgeborenen leicht gestaltet. Doch sie versucht nicht, die Personen im Sinne klassenkämpferischer Agitation zu denunzieren. Der Regisseurin geht es nicht darum, mit dieser Inszenierung eines Klassikers offene gesellschaftspolitische Türen einzurennen. Sie kann aber das Groteske dieser Situation, wie es sich uns heute darstellt, dadurch herausstellen, dass sie zeigt, wie die handelnden Personen in ihren Rollenvorstellungen gefangen sind. Der wehmütige Witz der Situation ergibt sich daraus, dass Almaviva im Grunde genommen um die Fragwürdigkeit seiner Position weiß, es sich aber bei Gefahr der Selbstauslöschung niemals eingestehen würde. So spielt er seine Rolle nolens volens weiter. Der Gräfin geht es ähnlich, lässt sie sich doch das tägliche Gleichmaß ihres adligen Lebens gerne von der stürmisch-naiven Liebe Cherubinos verschönern.
Auf der anderen Seite weiß ein Figaro nicht, wohin mit seinem revolutionären Furor. Zwar würde er gerne mit dem Grafen „ein Tänzchen wagen“, doch was dann geschehen soll, ist ihm schleierhaft. Er genießt den Zweikampf als solchen, ohne über die Konsequenzen im Fall eines Sieges nachzudenken. Was bei seiner Niederlage geschieht, ist ihm dagegen klar. Susanna hat dagegen ein eindeutiges Ziel vor Augen: Figaro so schnell wie möglich zu heiraten und den Nachstellungen des Grafen zu entgehen.
Diese Konstellation spielen die vier Protagonisten nach allen Regeln der komischen Kunst durch, wobei sich taktische Siege und Niederlagen in schneller Folge ablösen und für viele komische Situationen sorgen. Alle vier Hauptdarsteller füllen dabei ihre Rollen nicht nur sängerisch, sondern auch darstellerisch überzeugend aus. Im Mittelpunkt steht natürlich Susanna, der Mozart auch die größte Präsenz einräumt. Sie fehlt in nahezu keiner Szene, und wenn nur als sich versteckender Zaungast. Jana Baumeister verleiht ihr hohe stimmliche wie darstellerische Agilität und ein selbst in der Niederlage noch kämpferisches Selbstbewusstsein. Katharina Persicke besticht durch einen herrlich weichen und modulationsfähigen Sopran, der besonders in den wehmütigen Solo-Arien über den untreuen Ehemann zum Tragen kommt. David Pichlmaier verleiht dem Grafen mit seinem weichen Bariton den eher ambivalenten Charakter eines seine eigene Fragwürdigkeit spürenden Grafen Almaviva, während Georg Festls Bass-Bariton virile Züge wie auch sein darstellerischer Auftritt zeigt.
Die anderen Rollen sind keinesfalls Nebenrollen, sondern ebenfalls sorgfältig gestaltet und dargestellt. Kammersängerin Katrin Gerstenberger verleiht der Marcellina eine stimmliche Wucht und darstellerische Präsenz, die diese Figur auf Augenhöhe mit den vier Hauptdarstellern bringt. Gleich zu Beginn liefert sie sich mit Jana Baumeister eine veritable Kissen- und Sangesschlacht um den begehrten Figaro. Sekhoon Moon und Michael Pegher scharwenzeln als „Lobbyisten“ Bartolo und Basilio um Marcellina und den Grafen herum, und Nicolas Legoux bringt als entrüsteter Gärtner Antonio das kunstvolle Lügengebäude von Figaro und Susanna fast zum Einsturz.
Bleibt noch eine besondere Rolle dieser Oper zu erwähnen, die eigentlich wenig mit der zentralen Handlung zu tun hat, jedoch fast durchgehend in allen Szenen präsent ist: Cherubino. Viele Opernexperten haben sich tief schürfende Gedanken über die Bedeutung dieser seltsamen Figur gemacht, die Naivität mit brennender, unschuldiger Liebe verbindet und sich dadurch fast um Kopf und Kragen bringt. Eine Interpretation besagt, dass Mozart in dieser Figur sich selbst portraitiert hat, und das ist gewiss nicht die abwegigste Sichtweise. Xiaoyi Xu spielt diesen erotischen Wildfang und erstrangigen Risikoträger auf ausgesprochen quirlige, aber auch anrührende Weise. Man nimmt ihr den halbwüchsigen Jungen ohne Weiteres ab und zittert mit ihr um den Ausgang seiner Eskapaden. Eine der schönsten Szenen dieser Inszenierung ist die mit Susanna und der Gräfin, in der beide Frauen diesem schönen Jüngling fast hingebungsvoll erliegen, statt ihn einfach nur zu verkleiden.
Das Bühnenbild von Tim Northam verzichtet auf jeglichen historischen Dekor, aber auch auf überflüssige Aktualisierung. Wände und Tapeten mit einem einfachen blauen Pflanzenmuster zitieren rudimentär das Lebensgefühl des Rokokko, während die Kostüme gemäß alter Theatertradition die Spielzeit und nicht Handlungszeit widerspiegeln. Schließlich sind wir hier auf dem Theater (im Theater), und da nimmt man das, was verfügbar ist. Außerdem verweisen die heutigen Kostüme auf die Zeitlosigkeit des Themas.
Mit dieser Inszenierung, die allerdings eine Wiederaufnahme einer Kölner Inszenierung und keine genuine Eigenschöpfung ist, hat das Staatstheater erfolgreich gezeigt, wie man Mozarts „Figaro“ immer wieder neue Aspekte entlocken kann. Das Publikum würdigte diese Leitung mit kräftigem Beifall für alle Beteiligten.
Frank Raudszus
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