Schon immer hat die Nachbildung der Realität nicht nur die künstlerisch tätigen Menschen fasziniert. Die zweidimensionale Darstellung im Bild reichte ihnen bald nicht mehr, wie frühe Tonfiguren und vor allem die antiken Skulpturen zeigen. Doch was diesen in ihrer idealisierten Statik fehlte, war die Wiedergabe lebensnaher Szenen aus der Natur und dem Alltag der Menschen. Mythische Szenen wie der Kampf Laokoons mit der Schlange waren erste Ansätze, aber ihnen fehlt das Konkrete, Anschauliche.
Aus diesem Drang der Realitätsnachbildung entwickelte sich im 18. und 19. Jahrhundert die Kunstform des „Dioramas“. Dabei wurden bestimmte Szenen – vorwiegend historische oder alltägliche – in dreidimensionaler Form in einer Art „Mini-Theater“ nachgestellt. Das Diorama diente jedoch nicht dem aktiven Nachspielen wie etwa die Tischtheater, sondern nur der Anschauung. Aus praktischen Gründen stellten diese Dioramen meist maßstäbliche Verkleinerungen dar, um sie auch am heimischen Herd genießen zu können. Wo jedoch Repräsentation und Eindruck wichtig waren, konnte solch ein Diorama auch Lebensgröße annehmen. Das war (und ist noch) vor allem der Fall, wenn die Tierwelt mit didaktisch-pädagogischem Hintergrund dargestellt werden soll.
Die Kunsthalle Schirn hat dieser Kunstform jetzt eine eigene Ausstellung gewidmet, die unter dem Titel „Diorama – Erfindung einer Illusion“ bis zum Januar 2018 zu sehen ist. Sie entstand in enger Zusammenarbeit mit dem „Palais de Tokyo“ in Paris, wo sie auch zuerst gezeigt wurde. Konsequenterweise präsentierten die französischen Vertreter – Lauren Le Bon und Florence Ostende – auf der Pressekonferenz Hintergrund und Ziel dieser Ausstellung.
Das Diorama begann im 17. und 18. Jahrhundert als naive Nachbildung religiöser Themen – Christi Geburt oder das Leben in einem Kloster – in Kleinformat und mit schlichten Lehm- oder Tonfiguren. Mit den aufkommenden Naturwissenschaften kam die Darstellung fremder Lebensräume – Afrika oder Südamerika – hinzu, wobei die menschlichen oder tierischen Figuren meist vor einem gemalten Landschaftshintergrund aufgestellt wurden. Ziel war die Konstruktion einer täuschend echten Nachbildung der Natur, was natürlich bald zu lebensgroßen Dioramen führte.
Parallel dazu entwickelte sich eine technische Variante, die zum Ziel hatte, gewisse Naturereignisse dynamisch darzustellen. das erreichte man mit semitransparenten und/oder gezielt perforierten Leinwänden, auf deren Vorderseiten durch eine raffinierte Hintergrundbeleuchtung Ereignisse wie ein Vulkanausbruch einschließlich des Wechsels von Tag und Nacht lebendig wurden. Der heutige, durch Kino, Fernsehen und Internet verwöhnte Betrachter lächelt über diese naive Darstellung, doch im 18. und 19. Jahrhundert faszinierten diese Dioramen eine reproduzierbar bewegte Bilder nicht gewohnte Gesellschaft außerordentlich, war es doch die einzige Möglichkeit, etwas bildlich über ferne Länder, Tiere und Kulturen zu erfahren.
Im zwanzigsten Jahrhundert feierten die Dioramen ihre größten Erfolge in den Museen und tun es dort noch, wie man etwa im Hessischen Landesmuseum Darmstadt sehen kann, das die Fauna der Welt in einer ganzen Reihe lebensgroßer Dioramen zeigt. In dieser Konstellation werden sie wohl auch noch so lange überleben, bis interaktive digitale 3D-Simulationen sie irgendwann vollständig ersetzen werden.
Die Kunst hat sich im zwanzigsten Jahrhundert ebenfalls ernsthaft der Diorama-Technik gewidmet, jedoch in kritischer Weise. Sie entlarvte die ursprüngliche Annäherung der naturgetreuen Simulation als kolonialen, im besten Falle jovialen Blick auf fremde – will sagen: niedere – Kulturen. Dabei wurden sowohl Menschen als auch Tiere stets romantisierend dargestellt, im Einvernehmen mit einer ursprünglichen, authentischen Natur. Die Künstler denunzierten diese Sicht nicht ganz zu Unrecht als westliche Arroganz und Voyeurismus. Der „kultivierte“ Europäer schuf sich mit den Dioramen die Welt so, wie er sie gerne hätte. Deshalb dekonstruieren zeitgenössische Künstler das Diorama in einer Weise, die die Grenze zwischen Realität und Fiktion verschwimmen lassen. Eine Variante dieser Dekonstruktion besteht darin, auf großflächigen Bilder den Inhalt eines Dioramas wiederzugeben, es jedoch gleichzeitig durch den Rahmen eines Ateliers, Werkzeugtische und arbeitende Künstler als Illusion zu entlarven. Bei Richard Barnes´Bildern bleibt dabei unklar, welche Elemente noch zu dem – zitierten – Diorama und welche zu der bearbeitenden Umgebung gehören. Dabei entstehen ähnliche absurde Situationen wie in Filmen, in denen plötzlich der Regisseur mit dem Hauptdarsteller über den Film diskutiert. Barnes zeigt mit diesen übereinander gestapelten Meta-Ebenen das Illusionäre und Manipulierende aller Realitätsnachbildungen.
Eine andere moderne Variante sind Dioramen in technisch herkömmlicher Art, bei denen der Inhalt die ursprüngliche Absicht unterläuft und letztlich zerstört. So zeigt ein Diorama des Kanadiers Kent Monkman einen lebensgroßen Indianer mit Feder-Kopfschmuck auf einem Motorrad vor einem Panoramagemälde einer typisch amerikanischen Landschaft. Bei näherem Hinsehen entpuppt sich der vermeintliche Indianerhäuptling als barbusige Frau, und im Vordergrund ist das Papmaché-Abbild eines lebensgroßen Picasso-Stieres zu erkennen. Die Botschaft ist deutlich: Kommerz, Konsum und Klischee vernichten Kunst und Authentizität. Der Franzose Marc Dion wiederum zeigt ein realistisches Diorama aus Stadtmüll mit einer streunenden Katze und einer Ratte, das statt romantisierender Ursprünglichkeit die scheußliche Seite der modernen Zivilisation zur Schau stellt. Ein anderes Diorama von Mathieu Mercier verbindet die tote Materie eines typischen Dioramas mit echtem Leben, indem es die hybride Lebensform eines Axolotl – eine Art Fisch mit Beinen – in einer mit Wasser angefüllten Torfmulde ansiedelt. Hier wird das statische Abbild einer vorgestellten Realität zum ambivalenten Leben selbst, wobei die Mehrdeutigkeit des Axolotls auf die Dynamik der Realität verweist.
Die Ausstellung veranschaulicht die Tatsache, dass die Kunstrichtung des Dioramas viel mehr ist als nur eine naive Abbildung der Natur. Sie transportiert vielmehr die Philosophie oder Ideologie der Hersteller und Betrachter, die sich die Welt nach ihrer Vorstellung erschaffen und ihr mit den Dioramen eine statische und damit scheinbar nicht mehr hinterfragbare Wahrheit verleihen soll.
Die Ausstellung ist bis zum 21. Januar 2018 geöffnet. Näheres ist auf der Webseite der Kunsthalle Schirn zu erfahren.
Frank Raudszus
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