Der Untertitel des vorliegenden Buches – „Eine internationale Debatte über die geistige Situation der Zeit“ – führt insofern in die Irre, als es sich hier nicht um eine echte Debatte handelt. Stattdessen präsentieren sechzehn Autoren – Soziologen, Politikwissenschaftler, Journalisten und Schriftsteller – ihre Sicht der aktuellen politischen Landschaft, ohne miteinander in eine Diskussion zu treten. Die Meinungen bleiben daher nebeneinander im Raume stehen und fordern den Leser auf, diese Diskussion mit sich oder virtuell mit den einzelnen Autoren zu führen.
Ausgangspunkt der Essay-Sammlung ist der wachsende Populismus in der westlichen Welt, denn nur um diese geht es hier. Von Trumps Präsidentenschaft über den Brexit bis zu den störrischen Polen und Ungarn reicht das Spektrum, doch auch Israel und ansatzweise der Nahe und mittlere Osten kommen zu Wort. Die Klage über nationalkonservative und fremdenfeindliche Strömungen ist nachvollziehbar und zieht sich durch alle Beiträge. Anders sieht es schon mit der Globalisierung aus, die durchweg nicht positiv gesehen wird. Das liegt, so paradox es scheint, daran, dass die Autoren überwiegend dem linken Spektrum zuzuordnen sind. Die einst international gesinnte Linke – „Proletarierer aller Länder, vereinigt Euch“ – äußert sich heute weitgehend kritisch über die Globalisierung in einer Form, die stark an die pauschale Kritik am Kapitalismus und dem Neoliberalismus erinnert. Hier fällt auf, dass die Autoren bis auf wenige Ausnahmen die Ablehnung der Globalisierung als ein durchweg akzeptiertes Faktum betrachten, das man nicht mehr detailliert zu begründen braucht. Diese Axiomatisierung eines politisch-ideologischen Meinungsbildes hat den Vorteil, dass man sich nicht mehr mit divergierenden und einander widersprechenden Argumenten herumschlagen muss. Mehr oder minder explizit statuieren die Autoren eine Depravierung der Massen durch die Globalisierung, die nur kleinen, kosmopolitischen Eliten zugute komme. Ökonomische Statistiken sind nicht die Sache der Ideologen, sonst wüssten sie, dass gerade die Globalisierung und der damit eng verbundene Freihandel die weltweite Armut in den letzten fünfzig Jahre um etwa 50% reduziert hat. Ähnliches gilt für den Neo-Liberalismus, wobei festzuhalten ist, dass der Liberalismus stets in der pejorativen Kombination mit dem Präfix „Neo“ erwähnt wird. Der Begriff „Liberalismus“ enthält zu viele positive Konnotationen, während ihn der Präfix „Neo“ automatisch in die Liga der negativen Kampfbegriffe katapultiert. Solch einen Begriff muss man nicht mehr explizit erklären oder gar seine Negativität beweisen. Er ist per se negativ besetzt und damit bewiesen.
Die Autoren stehen bei der Erläuterung der Situation vor dem unangenehmen Problem, dass die populistischen Strömungen mit ihrem extremen, fremdenfeindlichen Nationalismus überwiegend in der traditionellen Klientel der Linken auftreten. Das widerspricht dem auch heute noch existenten, proportionalen Weltbild von reich=böse und arm=gut. Also muss man entweder diese Gruppen als vernachlässigte und manipulierte „Verlierer“ definieren oder gar die Eliten als wahre Quellen des Populismus definieren. Da beide Sichtweisen sich widersprechen, ziehen die meisten Autoren die erstere Variante vor. Demnach usurpieren die kosmopolitischen Eliten – vorneweg natürlich die internationalen Konzerne – alle Gewinne und lassen die Massen im Regen stehen. Das hört sich ganz nach Marx an und stimmt in gewissen Grenzen sicher auch, vereinfacht jedoch die Situation in nicht mehr nachvollziehbarer Weise.
In diesem Zusammenhang ist auch aufschlussreich, dass die meisten Autoren dem Neoliberalismus entweder sein nahes Ende verkünden oder es als bereits eingetreten erklären. Interessanterweise bleiben diese Diagnosen ohne konkreten Beleg, was besonders in Kombination mit der immer wieder beschworenen sozialistischen Alternative auffällt. bei der Beschwörung der katastrophalen Resultate des globalisierten Neo-Liberalismus werden Länder wie Deutschland geradezu peinlich ignoriert, da dieses Land trotz (oder gerade wegen?) freier Marktwirtschaft und seinem Bekenntnis zur Globalisierung blendend dasteht. Dagegen wird vor allem der Front National gerne als Sargnagel für die europäische Offenheit hingestellt, wobei eine Entscheidung der Franzosen für eine liberale Alternative de facto als unrealistisch betrachtet wird. Man hatte Macron schlicht nicht auf der Rechnung. Ähnliches gilt für die ins Populistische abgedrifteten ehemaligen Ostblockländer, die man auch gerne unter die Opfer des Neoliberalismus subsumiert. Ignoriert wird dabei großzügig, das andere Studien diese Haltung auf den Verlust der Identität nach dem Zusammenbruch des Kommunismus zurückführen.
Dieser Zusammenbruch wird zwar in den Beiträgen öfter erwähnt, jedoch nie hinterfragt oder gar analysiert. Man stellt ihn zwar nicht als „Teufelswerk“ des Kapitalismus dar, doch es entsteht der Eindruck, dass sich keiner der Autoren angesichts des eigenen Plädoyers für eine neue linke Revolution mit den Gründen für den Zusammenbruch auseinandersetzen will. Bei positiven Beispielen aus dem sozialistischen Lager wird gerne Bolivien angeführt, Kuba, Venezuela und Nordkorea – man beachte die apokalyptische Steigerung – werden jedoch gar nicht erst erwähnt.
Einige Beispiele sollen dieses Bild konkretisieren.
Donatella della Porta unterscheidet zwischen rechtem und linkem Populismus. Ersterer ist von oben durch Einzelpersönlichkeiten gesteuert und erwartet nur Jubel, letzterer gewinnt durch Partizipation von unten. Das mag in Ansätzen stimmen, aber dabei werden Berichte über das kompromisslose Kaderwesen bei den „Occupy“-Bewegungen ebenso ignoriert wie die „partizipartive“ Situation in linken Ländern wie Venezuela oder NK. Die Amerikanerin Nancy Fraser verlässt gar den Boden nüchterner Analysen, indem sie Wendungen wie „menschenfressender Finanzkapitalismus“ benutzt und den Protest „alter“ Industrien – sie meint wohl den „rust belt“ mit Kohle und Stahl als legitim betrachtet. Hier wandelt sich die angeblich progressive Linke zum Fürsprecher des „weiter so“. Dagegen wirken die Ausführungen der israelischen Autorin Eva Illouz realistisch und werfen ein neues Licht auf das religiöse Moment. Ihr zufolge betreiben gerade die orthodoxen Juden eine Politik der Ausgrenzung von (arabisch- jüdischen) Minderheiten, deren Protest sie als folgerichtig betrachtet. Auf der anderen Seite wirft sie gerade den israelischen Eliten vor, die Rechte ethnischer und sexueller Minderheiten(!!) zu schützen und damit die Mehrheit zu verärgern. So schnell kann sich eine Weltanschauung ändern, wenn die vermeintlich Falschen geschützt werden!
Ivan Krastev wiederum positioniert die Demokratie gegen den Liberalismus. Beides zusammen geht für ihn nicht. Die Ethnien bilden im neoliberalen Kampf aller gegen alle die letzte Bastion der Identität und werden demnach mit aller Kraft verteidigt. Auch der Internationalismus stellt für ihn eine Attacke gegen die Demokratie dar. Die klare Schlussfolgerung daraus ist ein politisch als korrekt empfundener Protektionismus, den der Autor jedoch lieber nicht näher definieren möchte.
Bruno Latour aus Frankreich dagegen sieht die Apokalypse bereits im Vollzug. Die große Realitätsverweigerung des Neoliberalismus führe zum gegenwärtigen(!) Absturz in den Abgrund, und die kosmopolitischen Eliten hoffen nur noch auf Zeitgewinn für sich. Wer diese Zeilen liest, fühlt sich an Weltuntergangsprophezeiungen einschlägiger Sekten erinnert. Die Probleme beschreibt Latour durchaus hellsichtig, aber apokalyptischer Pessimismus hilft auch nicht weiter. Er vermittelt jedoch offenbar das befriedigende Gefühl, es schon immer gewusst zu haben.
Der Brite Paul Mason schließlich packt noch einmal die alte Geschichte vom bösen Neoliberalismus und dem guten Sozialismus aus. Siehe Sowjetunion, Venezuela, Nordkorea. Er klagt ganz offen die Verlagerung von Arbeitsplätzen in Billiglohnländer an und fordert die Rückholung ohne Rücksicht auf die Folgen in den Entwicklungsländern! Damit soll den einheimischen Arbeitern ein ordentlicher Lohn gesichert werden. Doch was passiert, wenn diese Länder auf eigene Rechnung weiterproduzieren und exportieren, sagt er nicht. Sollen dann Zollmauern errichtet werden, die letztlich den eigenen Export treffen und die erhofften sicheren Arbeitsplätze auf diesem Wege vernichten?
Der indische Schriftsteller Pankaj Mishra verweist ganz richtig darauf hin, das Gleichheitsversprechen der (neo)liberalen Demokratie schaffe wegen seiner Unrealisierbarkeit erst das Ressentiment der Enttäuschten. Lapidar stellt er fest, dass Freiheit Ungleichheit erzeuge, doch diese Feststellung enthält eine zumindest latente Infragestellung der Freiheit.
Der Österreicher Robert Misik dagegen ist wieder aus echtem linken Holz geschnitzt. Zwar stellt er zu Recht die Forderung nach neuen gesellschaftspolitischen Ideen, doch holt dann selbst schnell die Ideen des guten („schlechten“) alten Sozialismus wieder hervor, als habe es dessen weltweiten Zusammenbruch nicht gegeben. Ausdrücklich lobt er die griechische Linke – Syriza -, die erfolgreich mit der falschen Austerität und den unwürdigen Zumutungen des Neoliberalismus gebrochen hätte. Das Griechenland ohne die EU wahrscheinlich längst auf den Stand von Kuba oder gar Venezuela gesunken wäre, unterschlägt er, wie er natürlich auch diese Länder (und Nordkorea!) in seinen linken Visionen gar nicht erst erwähnt.
Dagegen wirkt der Deutsche Oliver Nachtwey, den man sicher nicht als Rechten bezeichnen kann, mit seinem nüchternen Essay über Zivilisierung und Entzivilisierung geradezu wohltuend. Er verzichtet auf vordergründige Polemik und legt den Finger unter anderem auf die Wunde der Individualiserung der heutigen Gesellschaften und die damit einhergehende Entsolidarisierung.
Als Fazit lässt sich konstatieren, dass sich die überwiegend bekennenden Linken dieses Sammelbandes tief schürfende und oftmals zutreffende Gedanken über den Zustand der Welt gemacht haben, die auch oft in nachvollziehbare Schlussfolgerungen münden. Es bleibt jedoch der Eindruck, dass sie das abtrünnige, weil ins Lager des rechten Ressentiments gewechselte Proletariat dadurch ins „rechte“ linke Lager zurückführen wollen, dass sie Verständnis für ihre Ressentiments zeigen, den Grund dafür dem Neoliberalismus der „Eliten“ zuschreiben und ihrer abgewanderte Zielgruppe damit die bequeme Opferrolle zuordnen. Das passt auch zu der Strategie mancher Politiker der Linken (oder der linken SPD), die latente Fremdenfeindlichkeit in der Angst um den Arbeitsplatz bei den potentiellen Wählern zu bedienen.
Das Buch „Die große Regression“ ist im Suhrkamp-Verlag in der Reihe „edition Suhrkamp“ erschienen, umfasst 318 Seiten und kostet 18 Euro.
Frank Raudszus
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