Der Debütroman von Sasha Maria Salzmann ist harte Kost. Er begleitet die Zwillinge Alissa und Anton, die in Moskau das Licht der Welt erblicken. Sie wachsen in sehr beengten Verhältnissen auf und werden schon früh mit den Gewaltausbrüchen des Vaters konfrontiert. Sie versuchen, sich zu schützen, indem sie sich ineinander verkrallen, quasi miteinander verschmelzen. Als die Familie nach Deutschland auswandert, sind die Zwillinge nicht nur der häuslichen Gewalt sondern auch den Prügeleien und der Ausgrenzung in der Schule ausgesetzt. Früh üben sie, durch kleine Diebstähle im Asylheim an Geld zu kommen. Trost und körperliche Nähe müssen sie sich gegenseitig geben. Ihre geschwisterliche Nähe geht bis zum Inzest. Alissa gibt ihr Mathematikstudium zugunsten von Boxtraining auf, weil sie das Gefühl hat, dass diese Qualifikation fürs Überleben wichtiger ist.
Dann verschwindet plötzlich ihr Bruder Anton. Er haut einfach ab in die Türkei, ohne die Schwester zu informieren. Alissa verliert dadurch jeglichen Halt und versucht, den Bruder in Istanbul aufzuspüren. Dabei gerät sie in transsexuelle Kreise und mutiert selbst zum Mann, erst eher innerlich, dann auch gezielt durch Einnahme von Hormonen. Durch den Verlust ihres Bruders hat sie den letzten Halt im Leben verloren und beginnt, sich in ihn zu verwandeln.
Sasha Maria Salzmanns Roman beschäftigt sich mit traumatisierten Menschen und ihrer tief sitzenden Traurigkeit. Die Einsamkeit führt häufig zu exzessivem Sex mit anderen einsamen Menschen. Dabei versuchen sie, sich zu spüren und die körperliche Nähe zu finden, die ihnen im Leben gefehlt hat. Vielleicht ist es eine fast verschüttete Erinnerung an die Mutter, die als Sehnsucht in den Protagonist haust. Während sie verzweifelt nach echter Liebe und Zuneigung suchen, entgleitet Ihnen das eigentliche Leben immer mehr. Dabei verlieren sie das Wenige an eigener Identität, das sie angesichts ihrer Jugend besessen haben, und verlieren sich ohne Zukunftsperspektiven in einem Leben von einem Tag zum nächsten.
Sasha Maria Salzmanns Roman ist radikal und beschönigt nichts; selbst das kleinste Fünkchen Hoffnung fehlt. Dennoch ist der Roman in unserer übersättigten Konsumwelt lesenswert, stellt er doch existenzielle Probleme in den Mittelpunkt, die den Leser erschüttern. Er überzeugt nicht zuletzt durch eine dichte, ausgesprochene authentische Sprache und ein tiefes Einfühlungsvermögen in Menschen mit gebrochenen Biographien.
Das Buch ist im Suhrkamp-Verlag erschienen, umfasst 366 Seiten und kostet 22 Euro.
Barbara Raudszus
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