Für das 1. Kammerkonzert des Staatstheaters Darmstadt hatte man den US-amerikanischen Pianisten Kit Armstrong als Solisten gewinnen können. Armstrong hat in wenigen Jahren einen fast kometenhaften Aufstieg hingelegt und ist in Darmstadt seit 2016 kein Unbekannter mehr, als er in einem Kammerkonzert zusammen mit zwei anderen renommierten Musikern auftrat. Wenn er den Konzertsaal betritt, vermittelt er einen derart bescheidenen und jugendlichen Eindruck, dass man fast glauben könnte, er solle für den – noch zu erwartenden – Pianisten die Seiten umblättern. Dass dieser junge Mann nebenher ein volles Mathematikstudium absolviert hat, mag man – vor allem angesichts der pianistischen Leistung – kaum glauben.
Das Programm begann mit Johann Sebastian Bachs Konzert d-Moll BWV 974, das Bach zur Klavierversion eines Oboen-Konzertes von Alessandro Marcello umarbeitete. Wie ein richtiges Konzert besteht es aus drei Sätzen (Allegro – Adagio – Presto), den orchestralen Eindruck muss jedoch in Ermangelung eines Orchesters das Klavier alleine erwecken. Entsprechend voluminös fällt vor allem der Part der linken Hand aus. Armstrong präsentierte dieses Stück akzentuiert und in gleichmäßigem Tempo, ohne markante Änderungen der Dynamik. Ganz im Sinne des frühen Barockzeitalters legte er Wert auf gemessenes Voranschreiten einer Musik, die den ehrfurchtgebietenden Charakter der geistlichen Musik auch auf die frühen säkularen Werke übertrug. Armstrong erzeugte so einen über Alltagsproblemen und temporären menschlichen Emotionen schwebenden Ausdruck. Dieser Ausdruck verstärkte sich in dem langsamen zweiten Satz, der durch seine verhaltene Agogik ins Melancholische, fast Düstere changierte. Hier schimmerte unverkennbar die klagende Seite des Barock durch, die mit der optischen Pracht der Kirchen ein seltsam kontrastierendes Paar bildete. Das Presto des Finalsatzes kam bewegt daher, hielt jedoch trotz aller technischen Virtuosität ein gewisses Ebenmaß ein. Dabei verfiel Armstrong jedoch nie einer rein mechanistischen Auffassung von Bachs Musik, wie sie früher einmal im Sinne einer vermeintlichen Jenseitigkeit gepflegt wurde. Der vordergründig gemessenen Interpretation wohnte eine kontrollierte aber nie unterdrückte Emotionalität inne, die nicht bei der reinen Ehrfurcht stehen blieb.
Der Sprung zu Mozarts zwei Präludien und Fugen – Nr. 1 und Nr 3 aus KV 404a – war nicht nur deutlich sondern auch lehrreich. Markanter hätte man den Fortschritt der musikalischen Auffassung innerhalb eines knappen halben Jahrhunderts kaum zeigen können. Die klassische Kombination aus Präludium und Fuge, wie sie Bach meisterhaft in seinem „Wohltemperierten Klavier“ ausgeführt hat, wandelt sich hier eindeutig ins Individuell-Emotionale, wobei alle Schattierungen der musikalisch ausgedrückten Gefühlswelt vorkommen. Die Themen werden freier und liedhafter, und auch die Tempi ändern sich je nach emotionalem Ausdruck der musikalischen Figur. Die Handschrift Mozarts ist unverkennbar, auch wenn er sich vor allem in den Fugen eng an die Kompositionsregeln hält. Man hört Bachs Erbe als fernes Echo in den typisch mozartschen Figuren und Wendungen.
Armstrong betonte bewusst die Temporückungen und Anschlagsvariationen und verdeutlichte damit den Unterschied zu der Barockmusik Johann Sebastian Bachs. Das steigerte sich dann noch in seiner Interpretation der Klaviersonate C-Dur, KV 330, die nun vollständig die barocken Regeln hinter sich lässt und durch Leichtigkeit und motivische Kreativität glänzt. Im ersten Satz verzichtete Armstrong auf die Wiederholung des ersten Teils und ging gleich zur Durchführung weiter. Von Anbeginn an beeindruckte der leichte, fast beiläufige Anschlag, der den Eindruck der Schlichtheit vermittelt und doch so schwer zu erreichen ist. Im zweiten Satz befolgte Armstrong alle Wiederholungshinweise und verlieh dem Satz durch agogische Momente und besonders feinsinnigen Anschlag eine hohe Intensität. Den dritten Satz begann er fast nachdenklich, griff dann jedoch beherzter in die Tasten und gab damit dem Satz Farbe und Tempo. Mit diesem Werk war er aus der würdevollen Barockzeit angekommen in der vermeintlich heiteren Welt der Aufklärung, die sich über die heraufdämmernde Freiheit der Kunst auch musikalisch freute.
Den zweiten Teil leitete Armstrong mit Klavierbearbeitungen von sechs Choralvorspielen Johann Sebastian Bachs ein. Diese sind wie „Schmücke dich, o liebe Seele“ entweder linear, oder eher akkordisch wie „Allein Gott in der Höh sei Ehr“. Das nächste Vorspiel wirkt wie getupft und geht in ein Fugato über, dann wieder folgt eins in ruhiger, fast düsterer Tonlage mit ostinaten Figuren. Nach einem langsamen Vorspiel im 6/8-Takt und festen Figuren in der linken Hand folgte dann zum Schluss mit dem passenden Titel „Alle Menschen müssen sterben“ ein fast schlichtes Liedthema. Den besonderen Reiz dieser ursprünglich für die Orgel komponierten Vorspiele machte ihre Vielfalt rhythmischer, motivischer und harmonischer Elemente aus. Armstrong zeigte hier noch einmal schlagend sein Talent, die unterschiedlichsten emotionalen Inhalte musikalisch zu gestalten.
Den Abschluss des Abends bildeten zwei Werke von Franz Liszt, womit Armstrong nicht nur in der Hochromantik landete sondern auch beim Virtuosentum. Doch im ersten Stück – „Le triomphe funèbre de Tasse“ – überwogen eher die leisen und elegischen Töne, was wohl dem Titel (Begräbnis) zuzuschreiben ist. Das Stück beginnt mit einzelnen Tönen, die Armstrong mit fast aufreizenden Pausen vortrug. Nach einem ersten emotionalen und virtuosen Aufschwung folgt ein lyrisches Zwischenspiel, an das sich wiederum verschiedene eher schwermütige Themen anschließen. Das Stück endet in einer Eruption von Akkorden, bei der ein Pianist sein Virtuosentum zeigen kann.
Ähnlich, aber noch akzentuierter – auch stand wohl der Titel „Variationen über Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen“ Pate – geht es im zweiten Stück zu. Ostinat voranschreitende Akkordketten sowie eingestreute „Wirkunsgpausen“ prägen diese Komposition. Ausgeprägte Wechsel der Dynamik und weitgehende Auflösung der Form in überbordendem Virtuosentum bestimmen den weiteren Verlauf. Am Schluss konnte sich Kit Armstrong nach fulminantem Vortrag eine gewisse (Selbst-)Ironie nicht verkneifen, als er Kopf und Körper bei ausgestreckten Armen weit nach hinten streckte und bei den letzten, gehämmerten Akkorden in den Bühnenhimmel schaute, wie es von Franz Liszt schriftlich und bildlich überliefert ist. Da die Körpersprache jedoch der Musik vollständig entsprach, erschloss sich der – eventuell – ironische Charakter erst später.
Wie auch immer – das Publikum zeigte sich begeistert und spendete derart kräftigen Beifall, dass sich Armstrong noch zu einer Zugabe bereit erklärte. In offener Selbstironie kündigte er in fließendem Deutsch an, er wisse noch nicht, was er spielen wolle, um dann eine Fantasie und Fuge von Mozart zu spielen, die nahezu den Umfang eines vollständigen Progammpunktes aufwies. Noch einmal begeisterter Beifall.
Frank Raudszus
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