Die diesjährigen „Großen Darmstädter Gespräche“, die mit einer Reihe von Diskussionen und Lesungen zu vielfältigen Themen ein ganzes Wochenende im September füllten, begannen am Freitag Abend mit einer Uraufführung in den Kammerspielen. Dabei handelte es sich jedoch nicht um ein herkömmliches Schauspiel mit „lebenden“ Schauspielern, sondern um eine Video-Performance mit Provokationscharakter. Dieser ergab sich implizit schon aus der Sitzordnung, die mit einer Reduzierung der Sitzplätze einherging. Dabei waren jeweils zwei Sitzreihen einander frontal gegenübergestellt, mit deutlichen Abständen zwischen benachbarten Plätzen. Auf diese Weise wollte die Regisseurin Gesche Piening einen Augenkontakt zwischen den Gegenübern erzwingen und dabei die übliche Kommunikation mit dem Nachbarn (ohne Augenkontakt!) verhindern. Die Handlung, wenn man sie denn so nennen will, spielte sich auf je zwei Video-Leinwänden an den gegenüber liegenden Bühnenwänden ab. Damit hatte jeder Besucher einen Blick auf die Videos und auf seine direkten Gegenüber. Jeder Besucher erhielt einen Kopfhörer, über die er der verbalen Inquisition, denn eine solche war es in gewissem Sinne, folgen konnte. Der Sinn dieser Kopfhörer erschloss sich nicht ganz, denn sie gaben den Besuchern die Möglichkeit, nach innen zu schauen und sich damit vor dem Augenkontakt mit dem Gegenüber zu drücken. Das wäre bei „öffentlichen“ Lautsprechern nicht möglich gewesen. Wo hätte man dann hinblicken können?
Eine weibliche Stimme befragte ein fiktives Publikum – hier natürlich das reale -, wie es sich am Ende ihres Lebens bei einer Rückschau sehen würde: als Helden, die einen gesellschaftlichen Umschwung vorangetrieben haben, oder als Versager, die nach dem Prinzip „weiter so“ gelebt haben. Dabei zog die Sprecherin alle Register der aktuellen Weltprobleme: Ungleichheit innerhalb von Gesellschaften sowie zwischen Staaten, die drohende ökologische Katastrophe, die Privilegien der Europäer, die Flüchtlingskrise, die Migration. Mit provokanter Direktheit fragte die Sprecherin danach, was die Befragten für eine Bewältigung der Krisen bereits getan hätten bzw. zu tun gedächten. Ob sie sich bereits Gedanken darüber gemacht hätten, wie sie sich bei einer späteren Rückschau sehen wollten. Mit einer geradezu lakonischen Ernsthaftigkeit weckte sie bei den Besuchern das schlechte Gewissen auf eine Weise, wie es früher nur der katholische Pfarrer tat.
Da bei diesem Format eine Diskussion mit den Zuschauern nicht vorgesehen war, spielten zwei Schauspieler fiktive Zuschauer und deren voraussehbare oder mögliche Reaktionen. Dabei zeigte Gesche Piening keine Gnade mit dem Publikum, denn sie ließ die beiden Darsteller sämtliche Alibis und Ausreden für fehlendes Engagement (Familie, Job, Stress, Zeitnot) mal mit defensivem, mal mit verdeckt aggressivem, mal mit sarkastischem, mal mit ironischem Unterton präsentieren. Das traf umso deutlicher ins Schwarze, als sich höchstwahrscheinlich jeder der Anwesenden in irgendeiner Weise ertappt fühlte (den Rezensenten eingeschlossen). Dass die eigenen Ausreden dort mit einer solchen „Frechheit“ vorgetragen wurden, empfand man als persönliche Entlarvung.
Zwischendurch gab es immer wieder stereotyp wiederholte Floskeln wie „Wir wünschen Ihnen einen schönen Abend“, die sich angesichts der inquisitorischen Befragung wie eine bittere Satire anhörten. Man entlarvte all die wortreichen Erklärungen der Darsteller als blanke Ausreden, sah sich aber selbst in dieser unangenehmen Rolle. Quod erat demonstrandum!
Die Video-Performance endete mit den Bildern zweier stummer Schauspieler, die ihre Münder fest geschlossen hielten, als wollten sie sagen „Jetzt seid Ihr dran!“. Abschließend gab es als Höhepunkt der satirischen Provokation für jeden Besucher noch das ultimative Symbol der europäischen Eliten: ein Glas Sekt. Fast blieb er in der Kehle kleben, aber dann hat er doch geschmeckt.
Im Anschluss begannen im Foyer des Großen Hauses die Darmstädter Gespräche mit eine Kurzinterview des Intendanten, des Oberbürgermeisters und des Leiters Kulturfonds Rhein-Main sowie einem Vortrag des Schriftstellers Ingo Schulze.
Frank Raudszus
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