Die biblische Geschichte von Judith und Holofernes berichtet von der mutigen Witwe, die den grausamen Feldherrn erst verführt und dann umbringt, um ihre Stadt vor der Zerstörung zu retten. Die Verführung ist dort lediglich ein Mittel zum Zweck, und die Tatsache, dass Judith trotz kurzer Ehe noch Jungfrau ist, darf man aus biblischer Sicht als Zeichen von Standfestigkeit und hoher Moral deuten. Die Jungfräulichkeit ist sozusagen das apologetische Gegenstück zur sexuellen – und daher klerikal nicht genehmen – Verführung und neutralisiert diese.
Friedrich Hebbel, den selbst – soweit man es seinen Lebensdaten entnehmen kann – eine eher unbeschwerte Einstellung gegenüber Eros und Treue prägte, hat das Spannungsverhältnis zwischen Judith und Holofernes einerseits und zwischen den verschiedenen Handlungsmotiven Judiths andererseits auf seine eigene Weise gedeutet. Holofernes ist bei ihm ein eher geradlinig gestrickter Charakter, der seine Macht brutal nutzt und keinerlei Skrupel gegenüber Kritikern wie Schmeichlern hegt. Er verkörpert als Feldherr und Politiker das Böse schlechthin und dient im Stück in gewisser Weise als „Stichwortgeber“, dessen außergewöhnliche Brutalität erst Judiths eigene Grenzüberschreitung rechtfertigt. Man darf nicht vergessen, dass Hebbels Stück mitten in der europäischen Restauration entstand, die sowohl politische Kritik wie auch erotische Freizügigkeit eindeutig verurteilte. Holofernes´ ausgeprägte Grausamkeit lässt sich daher in gewissem Sinne auch als implizite Selbstzensur deuten, um die Brisanz des sexuellen Kontextes zu dämpfen. Hebbel stellt Judith als innerlich zerrissene, von Visionen, Zweifeln und Frustrationen gequälte junge Frau dar, die ihre nie vollzogene Ehe als Stigma empfindet und dies durch eine große Tat auszulöschen trachtet. Ob Hebbel dabei Judiths nicht ausgelebten Sexualtrieb im Sinn gehabt hat, bleibt der Interpretation des Stücks überlassen, da Hebbel aus den erwähnten Gründen solche Triebkräfte im Stück nicht explizit äußern konnte.
Alexander Nerlich hat das Stück in Darmstadt von Beginn an als dramatische Psychostudie angelegt, die keinen Augenblick Langeweile aufkommen lässt. Dabei halfen ihm auch die Entscheidung zu konsequenten Kürzungen und der damit einhergehende Verzicht auf eine Pause. Die fünf Akte dieser Tragödie – im klassischen Sinne stimmt diese Gattungsbezeichnung eigentlich nicht – gehen in gut zwei Stunden über die Bühne. Dabei verzichtet er auf jegliche gesellschaftliche oder politische Aktualisierung und überlässt es dem Zuschauer, etwaige Parallelen selbst zu finden.
Das Bühnenbild von Flurin Borg Madsen und die Kostüme von Zana Bosniak unterstreichen Nerlichs konsequenten Ansatz mit gleicher Eindringlichkeit. Zu Beginn steht Holofernes auf einem geradezu apokalyptischen Schlachtfeld mit tiefschwarzer Grundierung und herumliegenden Körperteilen. Albträume in Gestalt tierköpfiger, mit abgetrennten menschlichen Köpfen und Gliedern hantierender Gestalten quälen ihn, bis er sie mit einer Handbewegung wegwischt und sich hinter Tiermasken die Soldaten seiner engsten Umgebung zu erkennen geben. In kurzen, geradezu diabolischen Szenen demonstriert er seine unbegrenzte Macht über Leben und Tod aller Mitmenschen und zeigt vor allem seine sadistische Lust an der Todesangst der Opfer und seine Vorliebe für erratische Entscheidung über deren Schicksal. Schon in dieser ersten Szene wird seine Gier nach absoluter Macht sowie die Verachtung derjenigen deutlich, die sich dieser Macht beugen. Er achtet nur mutige Gegner, allerdings mit dem Ziel, sie zu vernichten.
Als Kontrast dazu lebt Judith in einer Art Käfig, die halb wie eine finnische Sauna, halb wie ein unterirdisches Verlies aussieht, das man nur durch eine Luke von oben betreten kann. Hier verkrallt sie sich in den Wänden und beschreit ihr Schicksal einer jungfräulichen Witwe, die ihre Wünsche nicht ausleben kann. Dieser Käfig ist als Metapher auf ihre psychische Eingeschlossenheit zu verstehen, der sie nicht zu entfliehen weiß. Durch die Lücken zwischen den Holzbrettern dringen die äußeren Zumutungen wie penetrante Insekten auf sie ein, und sie versucht sich geradezu panisch dieser gefühlten Angriffe auf ihre Integrität und Identität zu erwehren. Eine Frau im Zustand gefährlicher psychischer Labilität, die in jedwede Aktivität münden kann. So bereiten Regie und Bühnenbild die Entscheidung zu Verführung und Ermordung des Holofernes vor. Hier agiert nicht eine kühl kalkulierende Frau, die Chancen und Risiken gegeneinander abwägt, sondern ein Nervenbündel aus emotionaler Frustration und hoch verdichteter (Selbst-)Aggression.
Diese beiden Bühnenbilder dominieren abwechselnd das Bühnengeschehen, wobei sich Judiths (seelischer) Käfig für jeden Auftritt aus dem Bühnenboden hebt. Erst zum Schluss vereinigen sich beide Protagonisten auf Holofernes´ Handlungsebene. Die abschließende Verführungs- und Ermordungsszene verzichtet bewusst auf herkömmliche erotische Momente. Vom ersten Augenblick ist es ein Machtkampf. Judith spielt die Verräterin ihres Volkes, die deren Sünden durch Holofernes bestraft wissen will. Dieser glaubt ihr nicht, ist aber von ihrem Mut und ihrem Aussehen beeindruckt. Außerdem hat er vor dieser Frau keine Angst und bringt sogar seinen treuesten Hauptmann eigenhändig um, als dieser ihn vor Judith warnt. Auch die ersten körperlichen Annäherungen der beiden sind geprägt von seiner selbstherrlichen Übergriffigkeit und ihrem kalten Stolz und enden in einem geradezu choreographierten Kampf zweier Körper um die Verfügungsgewalt. Erst im letzten Moment vor der – im „Off“ stattfindenden – Vereinigung entwickelt Judith kurzfristig eine Art koketter Verführungskunst, wobei es offen bleibt, ab diese Kunst dem Kalkül entspringt oder der Lust. Der Logik der weiteren Handlung folgend kann es nur der Kalkül gewesen sein, denn unmittelbar nach dem Akt erscheint sie desillusioniert weil entehrt auf der Bühne und schreitet konsequent zur mörderischen Tat. Hier muss der Zuschauer allerdings einige logische Gutmütigkeit aufwenden, denn Holofernes legt sich buchstäblich hin und lässt sich von den beiden Frauen widerstandslos enthaupten. Keine hinterhältige Überraschung nach seligem Liebesgenuss, sondern eher eine geplante Metzgerarbeit am wehrlosen Opfer. Es drängt sich daher die Interpretation auf, dass Holofernes selbst aus Lebensüberdruss seinen Tod von Judiths Hand anstrebt. Vorherige Aufforderungen zum Zustechen lassen sich also nicht nur als Spott des körperlich überlegenen Mannes sondern als Suizidwunsch interpretieren. Die Regie lässt diesen Punkt jedoch in bewusster Ambivalenz offen und überlässt die Interpretation dem Zuschauer.
Die Darsteller füllen ihre Rollen durchgehend überzeugend und mit viel Engagement aus. Dies gilt vor allem für Jessica Higgins, die mit allen Fasern ihres Körpers und der gesamten Bandbreite ihrer Stimme eine innerlich zerrissene Judith gibt. Durch alle Zerrissenheit dringt jedoch immer wieder der Wille zu einer befreienden Tat, wobei das Volk von Bethulien nur vordergründig das Ziel der Befreiung ist. Sie selbst will sich aus einer als unwürdig empfundenen Lage dadurch befreien, dass sie mit dem mächtigsten Mann auf Augenhöhe verkehrt und ihn besiegt. Jessica Higgins schlägt zusammen mit der ebenfalls überzeugenden Anabel Möbius als Dienerin Mirza über lange Strecken das Publikum in ihren Bann. Auf der anderen Seite gelingt dies Daniel Scholz, der dem Holofernes neben den brutalen auch selbstreflexive Momente entlockt, die wie kurze Blitze in sein gewaltorientiertes Leben einschlagen, aber dann wieder verlöschen. Zu groß ist die Sucht nach Ausübung der unbeschränkten Macht. An diesen Szenen lassen sich durchaus historische oder gar aktuelle Assoziationen anknüpfen – jedoch bewusst nicht zwingend. In weiteren Rollen treten Mathias Znidarec (Hauptmann und Samaja), Hubert Schlemmer (Gesandter und Ältester), Christian Klischat als Achior und Béla Milan Uhrlau auf. Sie alle fügen sich nahtlos in diese expressionistisch dichte Inszenierung ein und verleihen ihren Rollen die erforderliche Kontur.
Das Premierenpublikum zeigte sich angetan, spendete kräftigen Beifall für alle Beteiligten und geizte auch nicht mit „Bravo“-Rufen, vor allem für Jessica Higgins und Daniel Scholz.
Frank Raudszus
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