Die zivile Luftfahrt gilt als eines der sichersten Verkehrsmittel, weit vor Straßenbahn, Eisenbahn, Bus und vor allem dem Auto. Dennoch rufen Flugzeugabstürze jedes Mal Entsetzen hervor und erzeugen Flugangst, weil dabei meist eine große Zahl von Toten zu beklagen ist und weil das Gefühl der totalen Abhängigkeit im Flugzeug besonders stark ausgeprägt ist. Nicht zuletzt wegen der öffentlichen Reaktion ist die automatische Aufzeichnung aller technischen Parameter sowie der Cockpit-Gespräche seit langen Standard, während sich diese Maßnahme im erdgebundenen Verkehrswesen noch nicht durchgesetzt hat.
Der französische Pilot Jean-Pierre Otelli hat jetzt sechs beispielhafte Flugzeugabstürze der letzten zwanzig Jahre untersucht und dafür die Aufzeichnungen der Cockpit-Gespräche minutiös ausgewertet. Die Auswahl dieser fünf Unglücke erfolgt nach dem Kriterium menschlicher Fehler; das Buch gibt daher keine Auskünfte über die statistische Verteilung technischer und menschlicher Ursachen. Man kann diesem Buch jedoch deutlich entnehmen, dass – oftmals banale! – menschliche Fehler und Schwächen der Grund für viele Unfälle und wahrscheinlich auch für viel „Beinahe-Unfälle“ sind. Dabei sind zwei Erkenntnisse besonders erschütternd: erstens die oftmals geringe Erfahrung von Co-Piloten, die in ungewohnten Situationen mangels besseren Wissens und/oder aus Panik das Falsche tun, und zweitens die Selbstüberschätzung auch lang gedienter Flugkapitäne, die glauben, eine schwierige Situation auch entgegen den Warnungen der Bordcomputer und der grundsätzlichen Anweisungen meistern zu können.
Da ist ein ungeschickter Co-Pilot, der nach Übernahme der Verantwortung seinen Sitz derart tölpelhaft verstellt, dass er mit seinem Körper den Steuerknüppel nach vorne drückt und die Situation in seiner Panik nur noch weiter verschlimmert.
In einem anderen Fall schläft der Flugkapitän während des ganzen Fluges und trifft bei der Landung auf einer problematisch kurzen Landebahn schlaftrunken und reaktionsverzögert die falschen Entscheidungen.
Eine spanische Maschine bricht ihren Start wegen eines eher marginalen elektrischen Schadens ab. Als sich dieser nicht beheben lässt, startet man aus Zeit- und Geldgründen (längeres Warten kostet viel Geld und Ärger bei den Passagieren) ohne das elektrische Bauteil. Niemand weiß jedoch, dass dieses Element auch für die Meldung nicht ausgefahrener Landeklappen beim Start zuständig ist…..
Eine russische Topulew verpasst wegen verschiedener unglücklicher Zufälle die optimale Anflugroute auf den sibirischen Flughafen. Der Versuch, die Abweichungen in letzter Sekunde mit Brachialmanövern auszugleichen, führt zum tödlichen Trudeln der Maschine.
Bei einer koreanischen Maschine führt ein erschöpfter Flugkapitän wegen des angekündigten Ausfalls der automatischen Landehilfen des Flughafens die Landung manuell durch und vergisst dabei eine vor der Landebahn liegende Anhöhe. Die Autoritätsgläubigkeit seines Co-Piloten tut ihr Übriges zum tödlichen Ausgang.
Wichtigster Fall und gleichzeitig Untertitel des Buches ist der Flug der „Air France“-Maschine von Rio nach Paris, bei der die Vereisung der Geschwindigkeitsmesser, die darauf folgende Abschaltung des Autopiloten und eine katastrophale Fehleinschätzung der unerfahrenen Co-Piloten zu dem tödlichen Absturz führten.
In allen Fehlern zitiert Otelli den gesamten Gesprächsablauf im Cockpit bis zum Schluss. Das liefert nicht nur einen makaber-spannenden Krimi, sondern vermittelt darüber hinaus auch die existenzielle Situation der letzten Minuten und Sekunden bis zum Schluss. Je mehr die Krise sich zuspitzt, desto weniger denken die Cockpit-Besatzungen an den Voice-Recorder und lassen auch Emotionen mehr oder minder freien Lauf. Es ist am Ende jedes Mal ein berührendes Rendezvous mit dem Tod.
Das Buch ist im Verlag „Editions JPO“ erschienen, umfasst 261 Seiten und kostet 24,35 Euro.
Frank Raudszus
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