Ein klassisches Sinfoniekonzert beginnt üblicherweise mit einem kurzen Orchesterwerk, dem das Solokonzert als Zentrum folgt. Den Abschluss bildet dann eine Sinfonie oder vergleichbares Werk. Das Konzert des Tonhalle-Orchesters aus Zürich zusammen mit Igor Levit als Solo-Pianist im Rahmen des
Rheingau-Musik-Festivals im Kurhaus Wiesbaden fand jedoch in anderer Konstellation statt: am Anfang stand Beethovens Klavierkonzert Nr. 5 in Es-Dur; nach der Pause folgten dann Edvard Griegs Bühnenmusik zu „Peer Gynt“ und Edward Elgars „Enigma-Variationen“. Diese Umstellung, die zu einer gewissen Verschiebung der Gewichte führte, dürfte auf die Längen der einzelnen Stücke zurückzuführen sein. Nur so war eine zeitliche Balance zwischen den beiden Teilen des Konzerts möglich.
Das Tonhalle-Orchester Zürich mit Igor Levit
Beethovens 5. Klavierkonzert dürfte eines der meistgespielten Werke der Musikliteratur sein. Das weit ausgreifende Thema des ersten, das intensive Adagio des zweiten und der zupackende Duktus des dritten Satzes lassen es geradezu als Metapher auf Triumph und Zukunftsglauben erscheinen. Extreme harmonische oder thematische Brüche fehlen ebenso wie melancholische oder gar schwermütige Passagen. Dieser durchgehende Optimismus macht es jedoch für einen Solisten nicht gerade einfach, dem Stück andere Aspekte als den vordergründiger Lebensfreude zu entlocken. Doch ein Igor Levit versucht gerade das und begnügt sich nicht mit einer fehlerlosen Wiedergabe der Partitur.
Sein Zugang zu diesem Werk bestand an diesem Abend darin, gerade die leiseren Stellen zwischen den großen akkordischen Aufwallungen und den virtuosen Läufen aufzuwerten und in den Vordergrund zu rücken. Wenn er etwa das Thema des ersten Satzes scheinbar unspektakulär mit der rechten Hand vortrug, legte er durch ausgefeilten Anschlag, minimale Verzögerungen und wohl dosiertes Legato eine derartige Spannung in die Musik, das dem Zuhörer buchstäblich der Atem stehenblieb. Selbst das Orchester schien fasziniert zu sein von dieser Intensität und ließ sich bei den orchestralen Antworten auf die Klavierpassagen in seinen Bann schlagen. Zusammen kreierten sie damit beeindruckende Momente musikalischer Intensität.
Das steigerte sich noch im zweiten Satz, in dem Levit jeden einzelnen Ton sorgfältig und mit höchster Aufmerksamkeit modellierte. Hier gab es keine einzige durchlaufende, will sagen unbedeutende Note, und die besondere Kunst des Solisten bestand darin, diese verinnerlichte Intensität ohne jegliche falsche Sentimentalität oder Pathos zu präsentieren.
Im dritten Satz konnte Levit dann zwar seine brillante Technik ausspielen, das ging jedoch nicht auf Kosten der Transparenz oder der Betonung der einzelnen Figur. Auch hier stand wieder die Betonung und Formung der scheinbar nur verbindenden Elemente im Mittelpunkt.
Das Orchester unter der Leitung von Lionel Bringuier zeigte sich an diesem Abend als zuverlässiger und einfühlsamer Partner des Solisten und nahm alle Impulse des Klaviers mit feinem Gespür für den jeweiligen Ausdrucksgehalt auf. Dabei standen die dunkleren, wärmeren Klangfarben im Vordergrund, bisweilen auf Kosten der Brillanz. Der begeisterte Beifall des ausverkauften Hauses motivierte Levit noch zu einer Zugabe aus Robert Schumanns „Kinderszenen“.
IGor Levit und Lionel Bringuier
Edvard Griegs „Peer Gynt“ leitete den zweiten Teil ein. Mit Präzision und viel Gespür für die schillernden Klangfarben dieser hochromantischen Bühnenmusik setzte Lionel Bringuier die vier unterschiedlichen Szenenbilder sorgfältig voneinander ab, ohne deshalb den musikalischen Zusammenhang aufzugeben. Das geradezu groteske „In der Halle des Bergkönigs“ bildete dann auch den krönenden Abschluss dieser Suite.
Edward Elgars „Enigma-Variationen“ kann man wahlweise als Rätsel (Enigma!) oder als musikalischen Spaß verstehen. Die seltsamen Buchstabenkombinationen für die einzelnen Variationen eines anfangs vorgegebenen Themas entsprechen den Initialen guter Freunde und Bekannter des Komponisten. Damit wollte er zeigen, wie diese gemäß ihrem jeweiligen Charakter das Thema abgewandelt hätten, so sie denn unter die Komponisten gegangen wären. Für uns Nachgeborene bleibt der Spaß mangels persönlicher Kenntnis der jeweiligen Person begrenzt, der Musik tut das jedoch keinen Abbruch. Man lernt die jeweilige Person sozusagen durch Elgars Musik kennen. Da ist der Feinsinnige zu finden, dann wieder der Aufbrausende oder die romantische Frau. Auch der kühle Rationalist oder der Weltmann finden sich hier. Jedem Charakterbild ist das passende musikalische Tempo zugeordnet, vom Adagio über die Romanza bis zum Presto. Ein wahrhaft „schepperndes“ Finale mit viel Blech schließt dieses Werk mit deutlichem Augenzwinkern ab.
Dirigent und Orchester hatten sichtlich Spaß an dieser vielfältigen Charakterstudie und legten sich vor allem bei den expressiven Variationen richtig ins Zeug. Bei aller Spielfreude standen jedoch Präzision und Transparenz der jeweiligen musikalischen Struktur stets im Vordergrund. Auch expressive Musik will diszipliniert gespielt sein, und das taten die Musiker des Tonhallen-Orchesters auf bestechende Weise.
Der kräftige Beifall des Publikums hielt so lange an, bis Lionel Bringuier und sein Orchester mit einem Slawischen Tanz von Antonin Dvorak noch eine temperamentvolle Zugabe spielten.
Frank Raudszus
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