Musikalische Messen waren ein Schwerpunkt der Barockzeit, die im Gegensatz zum Mittelalter und der Renaissance über genügend Wissen sowie herstellungs- und spieltechnische Instrumentalkenntnisse verfügte, um komplexe Werke zu komponieren und aufzuführen. Sie basierten auf dem Text der offiziellen katholischen Liturgie, nutzten jedoch aus Gründen des Umfangs oft nur einen Teil davon. Typische Teile einer Messe sind die einleitende Missa mit Kyrie und Christe, das Credo mit Christi Kreuzigung im Zentrum, das Sanctus und das abschließende Osanna mit Benedictus, Agnus Dei und Dona nobis pacem im Gefolge. Johann Sebastian Bach hat in seinem letzten Vokalwerk, der Messe in h-Moll, den vollständigen Liturgietext vertont. Mit Mozart teilte er das Schicksal, eines seiner wichtigsten Werke (oder das wichtigste Werk) nie öffentlich gehört zu haben, wobei letzterem der Tod selbst die Feder aus der Hand nahm. Bei Bachs Messe in h-Moll mag es daran gelegen haben, dass man ein solch komplexes Vokalwerk nicht „einfach mal so aufführen“ konnte, da der Bedarf an einer entsprechenden Zahl gut ausgebildeter Sänger eine lange Vorbereitungszeit erforderte.
Beim Rheingau-Musik-Festival traten das Freiburger Barockorchester mit seinem Männerchor und dem Knabenchor Windsbach unter der Leitung von Martin Lehmann im Kloster Eberbach mit diesem Werk auf. Die Basilika war an diesem Abend bis auf den letzten Platz gefüllt, denn dieses Werk bekommt man selbst im musikfreudigen Deutschland nicht alle Woche zu hören. Entgegen den Angaben in der Partitur traten nicht fünf sondern nur vier Vokalsolisten auf. Das Duett der beiden Sopranstimmen in der einleitenden Missa wurde damit zu einem Duett für Sopran und Alt. Eine Begründung dafür war im Programmheft nicht nachzulesen, allerdings sind die musikalischen Auswirkungen marginal – wenn überhaupt vorhanden. Die metaphorisch-spirituelle Bedeutung der ursprünglichen Stimmverdoppelung geht damit jedoch verloren, was allerdings nur Musikexperten gestört haben dürfte.
Die Missa beginnt mit einer kurzen Choreinleitung, der ein längeres Orchestervorspiel folgt. Schon in diesen ersten Takten zeigte sich die kammermusikalische Grundierung dieser Aufführung. Von Anfang an verzichtete Martin Lehmann auf die vordergründigen Effekte eines raumfüllenden Chorgesangs. Die ganz besondere Intensität entwickelte sich nicht aus der stimmlichen Präsenz – sprich: Lautstärke – sondern aus der engen Verflechtung der unterschiedlichen Stimmen.Bis zu fünf unterschiedliche Stimmlagen und -führungen der beiden Chöre sorgten für ein derart dichtes und sich lang ausdehnendes musikalisches Gewebe, dass sich die Spannung geradezu zwangsläufig einstellte. Auch die Duette – beginnend mit dem bereits erwähnten Duett Christe von Sopran und Alt – fügten sich in die kammermusikalische Ausrichtung ein. Die beiden Stimmen dominierten nicht sondern lieferten eher einen solistischen Kommentar. Das lässt sich auch mit der liturgischen Grundlage erklären, die schließlich nicht der Heraushebung individuellen Könnens sondern der spirituellen Hingabe dient. Beispielhaft für diese Aufführungspraxis ist der intensive, aber nicht „strahlende“ Klang des Chors im „Gratias agimus“, der den dienenden Charakter des unterliegenden Textes betont. Erst der Schlusschor nach den beiden Arien für Alt („Qui sedes..“) und Bass („Quoniam tu solus..“) schwang sich zu freudigen und ansatzweise ekstatischen Tönen auf. Doch auch hier ist zu beachten, dass die katholische Liturgie nie eine unverstellte Freude des Individuums erlaubte, sondern nur die ehrfürchtige Anbetung der Gottheit.
Der zweite Teil – „Symbolum Nicenum“ bezeichnet – begann mit einem kräftigen, fast befreienden „Credo“ des Chors, dem ein gut abgestimmtes und variantenreiches Duett von Sopran und Alt über „Et in unum dominum..“ folgte. Dann senkten sich die Stimmen des Chors hinab zu den düster klagenden Texten des“Et incarnatus..“ und vor allem des abgründigen „Cruxifixus“, bevor sie sich mit dem „Et resurrexit“ wieder in freudige Höhen schwangen. Das „Sanctus“ bestach vor allem durch den vielschichtigen Aufbau der Stimmen beider Chöre, die mit ihrer Interpretation dieser Partie eine ganz eigene Atmosphäre von Ehrfurcht, Hoffnung und Zuversicht schufen. Den Schluss bildeten dann die vier abschließenden Teile der Liturgie, wie man sie in abgeschwächter Form von jedem Gottesdienst kennt. Hier regieren in zunehmender Weise die Frieden und Trost spendenden Klangfarben, die schließlich ihre apotheotische Vollendung in „Dona nobis pacem“ finden.
Neben den überzeugenden Gesangssolisten – Robin Johannsen mit einem klaren Sopran, Sophie Harmsen mit einem warmen Alt, Julian Prégardien mit einem präsenten Tenor und Andreas Wolf mit einem voluminösen Bass – glänzten vor allem die beiden Chöre, die auch die Hauptlast des Abends trugen. Vor allem dem Knabenchor gebührt die größte Hochachtung, da es sich hier um Kinder handelt, die zwei Stunden lang nicht nur die stimmliche Präsenz sondern auch eine hohe Konzentration halten mussten und dies mit erstaunlicher Qualität taten. Das Orchester bestacht durch einen warmen Ton und den Verzicht auf jegliche vordergründige Brillanz. Man merkte diesem Orchester an, dass es sich um einen authentischen Klang bemüht, wie er zur Barockzeit geherrscht haben mag. Mangels akustischer Zeugnisse aus dieser Zeit kann man die Klangwirkung natürlich nur aus dem damaligen technischen Stand des Instrumentenbaus extrapolieren. Daraus ergibt sich zwangsläufig eine gewisse Bodenständigkeit und Schlichtheit des Klangs, die das Orchester auf überzeugende Weise umgesetzt hat, ohne deswegen ästhetische Zugeständnisse zu machen. Als Nebeneffekt dieser Authentizität gaben sie den Vokalisten viel Raum für eine freie Entfaltung der Stimmen, was vor allem den Chören zugute kam.
Das Publikum zeigte sich begeistert und spendete lang anhaltenden Beifall.
Frank Raudszus
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