Das Rheingau Musik Festival bietet auch in diesem Jahr wieder Sinfoniekonzerte im Kurhaus Wiesbaden an. Am 13. Juli gastierten die Münchner Philharmoniker unter der Leitung von Valery Gergiev mit Werken von Carl Maria von Weber, Ludwig van Beethoven und Modest Mussorgski. Solist war der junge kanadische Pianist Jan Lisiecki. Die Spannweite dieses Programms versprach einen großen Abend, und das Ensemble auf der Konzertbühne hielt dieses implizite Versprechen in vollem Umfang.
Carl Maria von Webers Ouvertüre zu seiner Oper „Oberon“ leitete den Abend ein und bildete bereits einen Kontrast zu Beethovens unmittelbar folgendem 4. Klavierkonzert. Dass Webers romantische, gefühlsgeladene Musik entstand, während Beethoven sich mit seinen letzten, fast jenseitig anmutenden Streichquartetten plagte, zeigt deutlich, welch unterschiedliche musikalische Welten und Auffassungen parallel existierten. Wenn auch das Klavierkonzert bereits 1806 entstand, so ist dennoch die Gleichzeitigkeit der unterschiedlichen Musikauffassungen unverkennbar und war daher in gewisser Weise auch in diesem Konzert präsent.
Als die Münchner Philharmoniker die Bühne des Kurhauses betraten, fühlte man sich allerdings an die Barockzeit erinnert, denn der Erste Geiger trat mit einer weißgrauen, mäandernden Mähne auf, die man glatt für eine Perücke halten konnte. So wirkte er eher ein wenig wie Johann Sebastian Bach oder Händel persönlich denn wie ein Musiker des 21. Jahrhunderts. Das war dann allerdings auch die einzige Assoziation an die Barockmusik, denn Carl Maria von Webers „Oberon“-Ouvertüre kam im typisch romantischen Gewand daher: emotionale Vielfalt, unmittelbar in Musik umgesetzt. Hier wurden Sehnsucht, Hoffnung, Freude und andere Gefühle zu Tönen und Klängen. Gleich zu Beginn erinnern zarte Motive an die silbrige Märchenwelt der Elfen, dann setzen dunkle, warme Klänge der Streicher ein, die in kraftvolle Tutti münden. Durch geschickte dynamische Wechsel wie Ritardandi baute Valery Gergiev einen Spannungsbogen auf, der bis zum Schlussakkord anhielt. Temperament, Witz und Lebensfreude zeichnen diese Musik aus, die mehr aus dem Herzen als aus dem Kopf kommt. Wie es romantische Musik halt an sich hat.
Dem stand im zweiten Werk Beethovens klassisches Verständnis gegenüber, das keine Programmatik kennt und Emotionen höchstens aus der Musik ableitet. Zwar haben Kritiker immer wieder versucht, Beethovens Werken bestimmte Aussagen zu unterlegen, doch Beethovens Musik sperrt sich gegen jegliche vordergründige Zuschreibung, weil sie nur aus sich selbst spricht. Der erst 22-jährige Jan Lisiecki, der in den letzten Jahren einen kometenhaften Aufstieg erlebt hat und bereits im dritten Jahr beim Rheingau Musik Festival präsent ist, stellte von Anfang an klar, dass er Beethovens Klaviermusik nicht auf „klassische“ Weise zu interpretieren gedachte. Die großen Pianisten des 20. Jahrhunderts haben gerne das „klassische Ebenmaß“ betont, sich weitgehend an die vorgegebene Metrik gehalten und auch bei expressiven Passagen auf Ausgewogenheit geachtet. Jan Lisiecki setzt sich von dieser Tradition deutlich ab. Zwar setzt er die dramatischen und lyrischen Akzente entsprechend den kompositorischen Vorgaben, aber darüber hinaus baut er durch feine aber unverkennbare rhythmische Verschiebungen eigene Spannungselemente ein, die zu einer ausgeprägten Lebendigkeit und Präsenz von Beethovens Musik führen. Geringfügige Tempowechsel, Ritardandi und überlegt angesetzte Synkopierungen sorgen für einen Spannungsaufbau, den man gerade bei diesem – eher lyrischen – Klavierkonzert so nicht kennt. Die Kadenz des ersten Satzes prägen abrupte dynamische Wechsel bis hin zu deutlichen Pausen. Lisiecki gestaltet die Kadenz im wahrsten Sinne des Wortes nach eigenen Vorstellungen und meißelt sie förmlich aus dem Flügel heraus, ohne deswegen nur in die Tasten zu hämmern. Im zweiten Satz herrschen ebenfalls agogische Elemente vor, wenn auch in einer nie übertriebenen Dosierung, und dadurch gerät dieser Satz buchstäblich zu einem „Gang durch die Unterwelt“. Im Finalsatz setzte Lisiecki seine agogische Spielweise gleich zu Beginn konsequent ein und erreichte damit einen Höreindruck, der entfernt an den Jazz erinnerte. Da er diese Agogik nie übertrieb, wirkte sie organisch und in keinem Augenblick aufgesetzt oder gar modisch-originell. Es blieb bis zum Ende Beethoven, aber mit der besonderen Note eines jungen, eigenwilligen Interpreten.
Das Orchester folgte ihm unter der aufmerksamen Leitung auf Schritt und tritt und blieb auch bei den feinen Tempoänderungen des Solisten stets bei ihm. Das für dieses Klavierkonzert typische Wechselspiel von Frage und Antwort zwischen Klavier und Orchester kam dadurch voll zur Geltung und verlor keinen Moment den inneren Zusammenhalt. Das Publikum honorierte die Leistung sowohl des Solisten als auch des Orchesters mit begeistertem Beifall einschließlich spontaner „Bravo“-Rufe und forderte von Jan Lisiecki noch eine Zugabe ein, die dieser in Gestalt eines Nocturnes von Frederic Chopin gerne präsentierte. Dazu passte auch, dass Lisieckis Physiognomie einschließlich Haarschopf an den jungen Chopin erinnert.
Im zweiten Teil des Konzerts folgte Modest Mussorgskis „Bilder einer Ausstellung“ in der Orchesterfassung von Maurice Ravel, was man durchaus als Reverenz an den russischen Dirigenten verstehen kann. Ist er doch einer der wenigen russischen Künstler, die noch nicht in den Westen abgewandert sind. So ließ er diese hochromantische Musik mit „typisch“ russischem Einschlag auch breit und ruhig beginnen, eben so, wie man sich die Weiten der russischen Landschaft vorstellt. Nach der „Promenade“ folgte der witzig-verzweifelte „Gnom“, dann das „alte Schloss“, das in seiner verwunschenen Ruhe fast ein wenig düster wirkt. Die „Spielenden Kinder“ in den Tuilerien schlagen sich in einer quirligen und aufgeregten Musik nieder, eben so, wie Kinder im Freien und in einer Gruppe sind. Der „Ochsenkarren“ schleppt sich mühsam über eine unwegsame Straße, während das „Ballett der Küken“ heftig gegen die Eierschalen pickt und sich aus diesen in die Welt kämpft. „Samuel Goldenberg und Schmuyle“ ist ein jüdisches Paar, bei dem ersterer in ruhigem, gesetzten Ton, letzterer im aufgeregten Diskant redet. Der „Markt von Limoges“ zeichnet sich musikalisch durch viel Lärm und spektakuläre Klänge aus, während die „große Neuigkeit“ buchstäblich in die Welt hinaustrompetet wird. „Katakomben“ und „Mit den Toten in der Sprache der Toten“ werden mit metaphorisch schwergewichtigem Glockengeläut garniert, und nach der „Hütte der Baba-Jaga“ endet das Stück mit dem „Großen Tor von Kiew“ mit einer mächtigen, geradezu apotheotischen Verherrlichung dieses Bauwerks.
Das Orchester verlieh jeder dieser Szenen ihren ganz eigenen Charakter und individuellen Klang, so dass sich die Episoden nicht nur durch die musikalischen Motive sondern auch durch ihre Klangfarben unterschieden. Die dahinter stehenden Geschichten, Menschen und Bauwerke wurden mit jedem Takt buchstäblich lebendig, und man konnte sich die soziale Welt dahinter plastisch vorstellen. Auch hier wieder großer Beifall des begeisterten Publikums im ausverkauften Saal, aber Valery Gergiev winkte die aufkommenden Zugabewünsche mit einer humoristischen Handbewegung ab und verschwand nach dem dritten Beifallsauftritt endgültig in die Garderobe. Das Orchester folgte ihm, denn es hatte mehr als seine Schuldigkeit getan.
Frank Raudszus
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