Im Rahmen der „Hessischen Theatertage 2017“ in Darmstadt gastiert das Staatstheater Gießen mit Marie Luise Fleißers expressionistischer Anklage „Fegefeuer in Ingolstadt“. Das Stück entstand Mitte der Zwanziger Jahre, als der politische und geistige Umbruch alle weltanschaulichen Gewissheiten zu Makulatur werden ließ. So trägt bereits das personelle Tableau des Stücks unübersehbare metaphorische Züge. Die Familie Berotter besteht aus Vater, Sohn und zwei Töchtern. Der Tod der Mutter lässt sich verstehen als das Verschwinden der seelisch-geistigen Mitte, wie man sie vor dem Krieg kannte. Die „Mutter Monarchie“ mit ihren verlässlichen autoritären Strukturen ist gestorben und hat eine orientierungslose Familie – sprich: Gesellschaft – hinterlassen. Alte Traditionen und Autoritäten – hier die katholische Kirche – spielen im Alltag der Menschen zwar noch eine große, jedoch weitgehend sinnentleerte Rolle. Man hat bei den entsprechenden Dialogen das Gefühl, dass sich manche Menschen geradezu verzweifelt an den brüchigen religiösen Riten festklammern, um überhaupt noch einen festen Halt zu finden.
Berotters ältere Tochter Olga ist von ihrem Freund Peps schwanger, der sie jedoch wegen dieser Schwangerschaft verlassen hat. Eine Abtreibung ist in dem Dorf nicht mehr möglich und wäre auch zu teuer, und so tröstet sich Peps mit einem anderen Mädchen. Olgas jüngere Schwester Clementine hat die hausfrauliche Rolle der Mutter übernommen, ohne dafür Dank zu ernten, und rettet sich in einen übersteigerten, geradezu bigotten Glauben. Gott sieht in ihr Herz und hat sie innerlich bereits zu den Engeln emporgehoben, was ihr das vermeintliche Recht moralischer Urteile gibt. Der drohende soziale Absturz durch ein uneheliches Kind bringt Olga in die soziale Nähe des Nachbarsohns Roelle, der sowohl von körperlichen Missbildungen wie auch von einer herrschsüchtigen Mutter geschlagen ist. Als Roelle über Umwege von Olgas Schwangerschaft erfährt, versucht er, sie mit diesem Wissen zu erpressen und sie als Freundin zu gewinnen. Dabei geht es ihm weniger um sexuelle Abenteuer als vielmehr darum, endlich mit einem anderen Menschen auf Augenhöhe zu verkehren, denn seine Altersgenossen verhöhnen ihn nur.
Die ungleiche, weil erzwungene Gemeinschaft der beiden steht von Anfang an unter einem ungünstigen Stern, weil sich Olga nur widerwillig an den ungeliebten Roelle anschließt und dieser sofort mit seinem vermeintlichen Erfolg prahlt. Die Notgemeinschaft ist von vornherein zum Scheitern verurteilt, und Roelle zieht die potentielle Selbstmörderin Olga nur deshalb aus dem Wasser, um seinen einzigen sozialen Strohhalm nicht zu verlieren. Zwangsläufig kommt Olgas Schwangerschaft ans Tageslicht, und die beiden kämpfen eher gegeneinander als miteinander gegen die Gesellschaft. Vereinzelt und vereinsamt werden sie zu Opfern einer bigotten Gesellschaft, die Außenseiter jeglicher Couleur nicht ertragen kann.
Regisseur Thomas Goritzki hat dieses Stück realistisch mit expressionistischer Färbung inszeniert. Dafür gibt ihm die gestanzte Sprache der Autorin eine gute Grundlage. Die Einfachheit der Sprache gewinnt durch den Wegfall jeglicher beschreibend-beschönigender Elemente an Abstraktion und damit an Symbolkraft. Roelle ist nicht ein junger Mann mit seelischen und familiären Problemen, sondern der Archetypus des Außenseiters, und auch Olga wird bewusst reduziert auf ihre Rolle als verlassene junge Frau mit werdendem Leben im Bauch. Diese bewusste Reduzierung der Figuren auf ihren Status von Ausgegrenzten birgt natürlich gewisse Gefahren in sich, vor allem, wenn sich die Figuren dagegen wehren. So wird Roelle wegen seines bedenkenlosen Griffs zu unmoralischen Mitteln zwecks Anerkennung nicht gerade sympathischer, und auch Olga greift in ihrer Verzweiflung zu Abwertung und Diffamierung ihrer Mitmenschen, vor allem der Schwächsten. Hier greift Brechts Feststellung, dass erst das Fressen und dann die Moral komme. Auch er hat bereits erkannt, dass diese Reihenfolge die Unterdrückten nicht gerade sympathischer macht.
Doch gerade in der Zeit des expressionistischen Umbruchs und Aufbruchs waren diese holzschnittartigen Figurenprofile verständlich, da nur so die erstarrten gesellschaftlichen Verhältnisse mit der erforderlichen provokativen Schärfe dargestellt werden konnte. Zu stark wirkte noch das großbürgerliche Erbe der Vorkriegszeit nach, als dass man die Charaktere in allen positiven und negativen Schattierungen hätte darstellen können. Das hatten bereits die nordischen Autoren vor dem Ersten Weltkrieg geliefert und damit keine Revolutionen ausgelöst.
So lässt Thomas Goritzki die Darsteller ihre Rollen auch bewusst plakativ und expressiv anlegen. Da wird geschrien und geklagt, und Dialoge bestehen aus gegenseitigen Schuldzuweisungen. Die verzweifelte Frage Vater Berotters, warum man sich nichts zu sagen habe, schlägt sich in Dialogen nieder, in denen die Figuren permanent aneinander vorbeireden. Diese Ziellosigkeit hat Heiko Mönnich mit einem geradezu metaphorischen Bühnenbild unterlegt, das nur aus Teilen von Eisenbahngleisen besteht. Die Drehbühne verbindet das zentrale Gleisstück zwar abwechselnd mit den sternförmig nach außen weisenden Kurzstrecken, doch diese enden nicht nur nirgends sondern sind auch offensichtlich defekt. Die Lebenswege sind verstümmelt und ohne Ziel – so die bühnenbildnerische Aussage.
Das Ensemble des Staatstheaters Gießen liefert eine kompakte und intensive Interpretation dieses abgründigen Stücks aus einer ebenso abgründigen Zeit, allen voran Lukas Goldbach als zunehmend den Verstand verlierender Roelle und Anne-Elise Minetti als böse-verzweifelte Olga.
Kräftiger Beifall des Publikums, das an diesem heißen Sommerabend in überraschend hoher Zahl gekommen war. Es hat sich gelohnt!
Frank Raudszus
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